Kein Land hat sich in den vergangenen 50 Jahren stärker verändert als die Volksrepublik China. Li Ruijun zeichnet in „Return to Dust“ nach, wie sich diese Veränderungen auf Menschen in den entlegensten Dörfern auswirken. Der Film will aber nicht auf politische Kritik hinaus, sondern auf eine großes Sinnbild für Wachsen und Vergehen. Bert Rebhandl hat sich „Return to Dust“ für den tipBerlin angeschaut.
Das Gleichnis vom Samenkorn im chinesischen Wirtschaftswunder: „Return to Dust“ von Li Ruijun
In chinesischen Familien wird man oft nicht mit dem Namen angesprochen, sondern mit einer Nummer. Ma zum Beispiel ist ein „vierter Bruder“. Er soll endlich heiraten, und seine Verwandten haben auch schon jemand für ihm im Auge: Guiying, eine Außenseiterin, die in einem Verschlag hausen muss und der im Leben schon übel mitgespielt wurde. Sie kann auch ihre Blase nicht mehr kontrollieren, und hinterlässt oft einen stinkenden Fleck. Ma und Guiying kommen also durch eine arrangierte Hochzeit zusammen, sie sind so etwas wie die Dorfnarren in einem Dorf, das es eigentlich bald nicht mehr geben sollte. Denn wer kann, zieht in die Stadt oder geht gleich in den reicheren Süden. Zurück bleiben die Alten und Armen. Und Ma und Guiying, die allerdings nicht resignieren, sondern beginnen, etwas aufzubauen: nur mit Hilfe eines Esels, und ausschließlich mit der Kraft der eigenen Hände, errichten sie ein Haus, bauen sie Weizen und Mais an, leben sie von den Früchten des Bodens.
Li Ruijun hat „Return to Dust“ in der Provinz Gansu gedreht, im Nordosten von China, in einer Gegend des Übergangs in die große Wüste. Unübersehbar ist sein Film als ein Kommentar zu dem Wirtschaftswunder gedacht, das die Volksrepublik in wenigen Jahrzehnten geschaffen hat. Viele Leute sind darüber materialistisch geworden, eine Figur wie Ma erscheint dabei eine närrische Ausnahme. Als ihm durch eine staatliche Maßnahme eine Wohnung in der Stadt zu einem stark subventionierten Preis angeboten wird, stellt er bei der Besichtigung eine Frage, die ihn als hoffnungslos rückständig ausweist: „Wo sollen die Hühner und Schweine hin?“ Zwischen Ma und Guiying entsteht allmählich eine zärtliche Beziehung, das Thema Intimität und Sexualität allerdings bleibt tabu, sie sind vor allem eine Produktionsgemeinschaft.
Wie der Titel des Films schon andeutet, gibt es schließlich noch einmal eine Wendung: Li Ruijun geht es nicht um einen Agrarmythos, um eine Feier der Fruchtbarkeit und einer traditionellen Bauernarbeit, sondern um eine philosophische oder religiöse Reflexion über die Vergänglichkeit allen Tuns: „Return to Dust“ erweist sich als großes Gleichnis vom Samenkorn, das immer wieder neu in die Erde gestreut werden muss, damit daraus eine Ernte entstehen kann. Ma und Guiying gehen ein in den Kreislauf des Lebens, der als Gegenbild zu den gigantischen Veränderungen in China doch nur einen sehr prinzipiellen Trost spenden kann.
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