Berlinale 2023

„20.000 Arten von Bienen“: So gut ist der Berlinale-Erfolg

In „20.000 Arten von Bienen“ erzählt Estebaliz Urresola Solaguren von einem Jungen, der lieber ein Mädchen sein will. Ein Bienenstock dient als Leitmetapher. Bei der Berlinale 2023 räumte der Film ab: Sofía Otero erhielt den Silbernen Bären für die beste darstellerische Leistung in einer Hauptrolle. tipBerlin-Filmkritikerin Alexandra Seitz hat „20.000 especies de abejas“, so der Originaltitel, gesehen.

Sofía Otero in „20.000 Arten von Bienen“. Foto: Gariza Films, Inicia Films

„20.000 Arten von Bienen“: Das Kind fühlt sich nicht wohl in seiner Haut

Etwas stimmt nicht. Das Kind fühlt sich nicht wohl in seiner Haut. Will nicht Baden gehen, will nicht mit dem älteren Bruder in einem Bett schlafen, will das bereit gelegte Gewand nicht anziehen, will sich die langen Haare nicht schneiden lassen. Das Kind fühlt sich in der Gesellschaft von Mädchen und in Kleidern wohler, die große Schwester nennt es deswegen leicht spöttisch „Cocó“.

„Cocó“ wird der Übergangsname auf dem schmerzensreichen Weg, den Aitor zurückzulegen hat, um endlich zu Lucía werden zu dürfen. Für ein achtjähriges Kind eine ziemliche Strapaze, für sein Umfeld aber auch kein Spaziergang.

„20.000 especies de abejas“: Sofía Otero leistet Beeindruckendes

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„20.000 especies de abejas“ (20.000 Arten von Bienen), das nach eigenem Drehbuch entstandene Spielfilmdebüt der 1984 im baskischen Bilbao geborenen Estibaliz Urresola Solaguren, feierte seine Uraufführung im Rahmen des Wettbewerbs der diesjährigen Berlinale; die damals neunjährige Sofía Otero, die darin erstmals vor der Kamera stand, wurde für die Darstellung des Buben, der das Mädchen in sich zur Welt bringt, mit dem Silbernen Bären für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle ausgezeichnet. Alle wichtigen Preise der Berlinale 2023 listen wir hier auf.

Man muss es nicht gut finden, dass hochkarätige Schauspielpreise an Kinder (und/oder Lai:innen) vergeben werden, um zugestehen zu können, dass Otero hier Beeindruckendes leistet. Es ist faszinierend, ihrer Figur dabei zuzusehen, wie sie sich vorsichtig tastend in das noch nicht vermessene Terrain ihrer (Geschlechts-)Identität vorwagt. Nicht zuletzt, weil, vermittelt über ihre Ratlosigkeit und Irritation – Ist womöglich im Bauch der Mutter etwas schief gelaufen? Wieso ist da ein Er, wo eine Sie sein sollte? –, die ganze Widersinnigkeit der auf dem Feld von Sex und Gender zahlreich vorzufindenden Grenzen, Differenzen und Abtrennungen augenscheinlich wird.

Freiräume im Familien-Verhängniskonglomerat

Diese krisenhafte Erkundung eines möglichen zukünftigen Selbst ist im Film „20.000 Arten von Bienen“ wiederum eingebettet in einen größeren Rahmen gärender familiärer Konflikte, die Mutter, Tante, Oma und Großtante betreffen und die im Zuge eines Heimatbesuchs aus dem Latenz- ins Explosionsstadium übergehen. Ausschlaggebend hierfür ist die immer noch spürbare Macht des bereits verstorbenen Patriarchen, eines Bildhauers, in dessen Schatten die Frauen der Familie klein blieben. So hadert Aitors/Lucías Mutter Ane mit ihrer nicht-realisierten Künstler-Karriere, ihre Ehe steht vor dem Aus, und von der eigenen Mutter wird sie weniger unterstützt als kritisiert. Denn in der Tochter erkennt diese Wesenszüge des Vaters/Mannes, dem sie Zeit seines Lebens zu viel vergeben musste. Einschränkende Rollenmuster und Geschlechterbilder also auch hier.

Sofía Otero in voller Montur: „20.000 Arten von Bienen“ („20.000 especies de abejas“) arbeitet mit dem Bienenstock als Allegorie. Foto: Gariza Films, Inicia Films

Den in diesem Familien-Verhängniskonglomerat dringend benötigten Freiraum eröffnet die verständnisvolle (Groß-)Tante, die Imkerin, die mit ihren Bienenvölkern zugleich die zentrale Metapher der Narration betreut: Eine Gemeinschaft ist ein lebendiger Gesamtkörper aus einzigartigen Einzelkörpern.

Dass Urresola Solagurens Dialogen mitunter die didaktische Absicht anzumerken ist, wird aufgewogen durch den Verzicht auf melodramatische Manipulationsmuster und die Sensibilität, die im Zusammenspiel des Ensembles spürbar ist. So bleiben die vielfältigen Möglichkeiten der Existenz keine Behauptung des Filmtitels, sie spiegeln sich in der unvoreingenommenen Beobachtung der Menschen, von denen „20.000 especies de abejas“ erzählt. Alexandra Seitz

  • 20.000 especies de abejas Spanien 2023; 125 Min.; R: Estibaliz Urresola Solaguren; D: Sofia Otero, Patricia Lopez Arnaiz, Ane Gabarain; Kinostart: 29.6. 


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