Berlinale 2023

Chinesischer Animationsfilm „Art College 1994“: Radikalität und Versöhnung

Liu Jian war einmal ein eigenwilliger Künstler. Nun ist er Professor an einer chinesische Hochschule und sucht in seinem autobiographisch gefärbten Film „Art College 1994“ nach einer Versöhnung mit dem System. Die Filmkritik.

Szene aus „Art College 1994“. Der Film läuft im Wettbewerb der 73. Berlinale. Foto: Nezha Bros. Pictures Company Limited, Beijing Modern Sky Culture Development Co., Ltd
Szene aus „Art College 1994“. Der Film läuft im Wettbewerb der 73. Berlinale. Foto: Nezha Bros. Pictures Company Limited, Beijing Modern Sky Culture Development Co., Ltd

Suche nach einer Position: „Art College 1994“

Der Animationsregisseur Liu Jian, Jahrgang 1969, hat mit seinen ersten beiden Langfilmen eine exzentrische Position im chinesischen Gegenwartskino besetzt. „Piecing I“ (2010) und „Have a Nice Day“ (Berlinale Wettbewerb 2017) sind Beispiele für ein experimentelles First-Person-Cinema, das aus einer Haltung maximaler Unabhängigkeit entstand: Wer alles alleine macht, dem kann auch niemand dreinreden. Liu Jian hatte für seine surrealen Bildgewitter Arbeit im Dauerakkord geleistet. Alle Bilder waren vom ihm selbst gezeichnet und animiert, und mit einer wattigen Tonspur versehen worden, auf der seine Slacker- und Künstlerfiguren von Kleingangstern drangsaliert wurden. Die Stimmen dazu lieferten seine Freunde aus der Kunsthochschule.

Hyperrealistisch-schäbiges Dekor und urbane Szenen

Lius jüngster Animationsfilm „Art College 1994“ führt nun als autobiographische Skizze direkt in die Studienjahre Lius an der Kunsthochschule von Nanjing zurück, wo er 1993 mit einem Abschluss in chinesischer Landschaftsmalerei seinen Weg begann. Der Film ist inhaltlich sehr persönlich angelegt, aber klassisch arbeitsteilig hergestellt: Liu ist heute Professor für Animation an der Kunsthochschule von Hangzhou und hat den Film mit seinen Studenten produziert. Seinem früher so aufgeputschten Kino scheint damit ein Stück Radikalität und überraschender Energie verloren gegangen. Immer noch gibt es das charakteristische Zusammenspiel von hyperrealistisch-schäbigen Dekors und urbanen Szenen vor einem fein arrangierten, akustischen Hintergrund.

„Art College 1994“ von Liu Jian. Foto: Nezha Bros. Pictures Company Limited, Beijing Modern Sky Culture Development Co., Ltd
„Art College 1994“ von Liu Jian. Foto: Nezha Bros. Pictures Company Limited, Beijing Modern Sky Culture Development Co., Ltd

In „Art College 1994“ tritt das Alter Ego des Regisseurs auf

Die jungen Männer und Frauen dieser Kunsthochschule suchen mehr oder weniger angepasst eine Position in der Kunst- und Musikwelt, räsonieren über die bestimmende Kraft des Marktes, und versuchen, sich die Ideenwelten der klassischen Avantgarden zu erschließen. Sie posieren als Performance-Künstler, träumen von Konzert-Karrieren und unterwerfen sich dazwischen mit spätadoleszenten Widerstandsformen den Ideologie-Seminaren der Fakultät.

Langsam tritt ein junger Mann als Alter Ego des Regisseurs in den Vordergrund, verliebt sich unerfüllt, findet zwischen Bierrausch und drastischen Gewaltlektionen einen eigenen Stil. Doch in diesen Biographien, die so jugendlich unangepasst scheinen, steckt etwas Gehemmtes, das sich mangels echter dramatischer Bögen mehr und mehr auf den Film überträgt. Als wäre Liu doch von jener Haltung affiziert worden, die sich die Akademieprofessoren seiner eigenen Aufbruchsjahre wünschten: eine Synthese von radikalem Beginn und traditionalistischer Versöhnung. Robert Weixlbaumer


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