Interview

Berlinale-Leitung: „Die Gegenwart zwingt zu direkten Formen“

Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek leiten als Duo die Berlinale. 2023 organisieren sie Filmfestspiele, die von zahlreichen Krisen in der Welt betroffen sind. Ein Gespräch über Solidarität mit der Ukraine, das oppositionelle Kino im Iran – und Räume für ein ideales Festival in Berlin.

Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek leiten die Berlinale. Foto: Imago/Future Image/F. Kern

Berlinale 2023: Ukraine im Fokus

tipBerlin Am 24. Februar, das ist der vorletzte Festivaltag der Berlinale, wird der Invasionskrieg in der Ukraine ein Jahr andauern. Gibt es Pläne für dieses Datum?

Mariette Rissenbeek Das Datum ist uns sehr gegenwärtig und das Thema beschäftigt uns auf jeden Fall. Wir sind dazu auch sehr eng im Austausch mit vielen Institutionen und Filmschaffenden, um zu sehen, was wir als Zeichen der Solidarität umsetzen können. Wir werden mit verschiedenen Filmen im Programm, die einen Bezug zum Thema haben, Akzente setzen. Im Filmmarkt wird es u.a. Veranstaltungen geben, bei denen es um die Finanzierung und Ko-Produktionsmöglichkeiten von ukrainischen Filmen unter den Bedingungen des Krieges geht. Die Ukraine steht bei uns in verschiedenen Bereichen im Fokus.

tipBerlin Die Berlinale wird aber keinen vollständigen Boykott oder ein Moratorium für russische Kultur ausrufen, wie es aus der Ukraine immer wieder gefordert wird?

Carlo Chatrian Unser erstes Anliegen ist es, die ukrainische Filmkultur zu unterstützen, und nicht so sehr, die andere Seite zu boykottieren. Wir werden ukrainische Filme in verschiedenen Sektionen haben. Russische Filme habe wir als Einzelfälle diskutiert, und es wird keinen rein russischen Film auf der 73. Berlinale  geben. Aber wir haben zwei russische Produktionen bzw. Ko-Produktionen, die jedoch ohne Mittel  des russischen Kulturministeriums entstanden sind. Unser Bedürfnis ist immer, Filme und ihre Vision mit dem Publikum zu teilen und sie auch nach dem Festival zu unterstützen. Wenn wir heute russische Filmemacher auswählen, wird es kompliziert, denn dieser Unterstützung sind enge Grenzen gesetzt.

tipBerlin Letztes Jahr lief in der Sektion Encounters „Brother in Every Inch“, ein Film über zwei Kampfpiloten bei der russischen Luftwaffe. Ein spannendes Beispiel für die Widersprüchlichkeiten nicht zuletzt im russischen Kino. Wie sehen Sie den Film aus heutiger Perspektive?

Carlo Chatrian „Brother in Every Inch“ haben wir im Herbst 2021 gesichtet, also deutlich vor dem Kriegsausbruch. Er stammt von einem jungen Filmemacher. Uns hat die Geschichte gefallen, vor allem aber, wie sie erzählt wird. Es geht um zwei junge Männer, um Zwillinge, die Militärpiloten werden. Aber es ist kein Film über das Militär. Es geht um die Angst vor dem Fliegen, auch um gespaltene Identität. Wir fanden den Film visuell sehr stark. Als er dann im Festival lief, war der Lärm des Krieges schon vernehmbar. Ich war sehr traurig darüber, dass dann viele Festivals, die sich nach der Berlinale für diesen Film interessiert hatten, einen Rückzieher gemacht haben. Es ist immer noch ein Film, von dem ich hoffe, dass das Publikum in aller Welt ihn sehen kann.

tipBerlin Russlands Filmkultur ist so vielschichtig wie die aller anderen Länder auch. Welche Erfahrungen haben Sie bisher mit dem russischen Kino gemacht?

Rissenbeek: „Idee der Freiheit und Situation in Russland zusammenbringen“

Mariette Rissenbeek Die offiziellen Institutionen des russischen Kinos werden dieses Jahr nicht auf dem Festival sein, das stand für uns außer Frage. Ich war aber, als ich noch für German Films gearbeitet habe, einige Male in Moskau und weiß auch von daher um die Komplexität der Situation. Es ging uns immer darum, die Idee der Freiheit und die Situation in Russland zusammenzubringen. Man versucht, dem Publikum dort Filme zu zeigen, die eine Brücke schlagen können, die andere Perspektiven eröffnen, als sie den Menschen von der Regierung gezeigt werden. Ich würde nach wie vor diese Kommunikation lieber gern stärken, aber der Krieg hat das verunmöglicht.

tipBerlin Der Iran schickt Drohnen nach Russland, die dann die Ukraine angreifen. Zugleich wird im Iran ein Aufstand vor allem der Frauen brutal unterdrückt. Die Berlinale hat immer ihre starken Beziehungen zum iranischen Kino betont. Wie geht man als Festivalleitung mit solchen Problemen um?

Chatrian: „Kaum ein Weg zurück zur Normalität“ im Iran

Carlo Chatrian Das sind große Fragen für uns. Im Falle Russlands würde ich nicht sagen, dass der Krieg aus heiterem Himmel kam, aber er schuf einen riesigen Bruch. Im Iran sehen wir bei der Beziehung zwischen Künstlern und dem Regime jetzt vielleicht das sehr tragische Ende einer sehr langen Entwicklung. Dissidente Filmemacher im Iran und außerhalb gab es seit mindestens 15 Jahren, und es gab schon 2009 eine Grüne Bewegung, einen großen Protest. Nun haben wir es mit einer richtigen Revolution zu tun. Es gibt kaum einen Weg zurück zur Normalität. Wir haben tiefen und persönlichen Austausch mit den Filmemacher:innen, die meisten leben inzwischen im Ausland. Mit Rasoulof und Panahi halten wir intensiv Kontakt, soweit dies möglich ist. Wir versuchen immer zu verstehen, ob eine Einladung eher hilft oder zur Gefährdung beiträgt. Mit den iranischen Filmemacher:innen sind die Beziehungen tiefer. Zu Russland waren die Beziehungen schon vorher distanzierter.

Mariette Rissenbeek Wir hatten aus dem Iran immer Institutionen im Markt, aber dahinter stand auch der iranische Staat. Dieses Jahr gibt es, wie im Falle Russlands, keine Zusammenarbeit mit dem offiziellen Iran. Wir werden mit einer Assoziation unabhängiger Filmemacher außer Landes arbeiten und ihnen einen Stand auf dem Markt geben.

Das iranische Kino war lange Zeit auf eine interessante Weise halb drinnen, halb draußen, halb offiziell, halb Untergrund. Inzwischen scheint es, als wäre diese Nuanciertheit nicht mehr möglich, als wäre jede gemeinsame Basis zwischen Staat und Kunst verloren gegangen.

Chatrian: „In Ländern, in denen jeden Tag Menschen getötet werden, haben Nuancen es schwer“

Carlo Chatrian Ganz sicher. Dieser Befund wird dieses Jahr sehr präsent sein. Die vielen Kämpfe in der Welt (für Frieden, für Demokratie, gegen Korruption) führen dazu, dass die Filmemacher:innen sich zu einer sehr direkten Form gezwungen sehen. Das iranische Kino seit Kiarostami war aber immer eher philosophisch. In Ländern, in denen jeden Tag Menschen getötet werden, haben Nuancen es schwer. Ein Dokumentarfilmer wie Vitaly Manski, aus Russland, aber nicht mehr dort, macht nun sehr straightes Frontkino. Kino hat verschiedene Möglichkeit, etwas zu transportieren. Die elaborierte Form hat es momentan nicht so leicht. Die Bedürfnisse sind einfach andere.

tipBerlin China ist eine weitere Herausforderung. Eine Supermacht, auch im Kino, die zunehmend Freiheiten einschränkt. Zuletzt auch sehr stark wegen Covid, doch auch generell.

Chatrian: „Wir wissen momentan gar nicht so richtig, welche Filmpolitik China hat“

Carlo Chatrian China war zuletzt wahrscheinlich das einzige Land, das komplett geschlossen war. Im Vorjahr hatten wir gerade einmal einen Film von dort. „Return to Dust“ war ein offiziell genehmigter Film, der die staatliche Botschaft von der Überwindung des Hungers und der Armut verkaufte, also ein Regierungsprogramm. Der Film wurde aber erfolgreicher, als die Autoritäten dachten, und zugleich machte er sichtbar, dass mit den zentral gesteuerten Modernisierungsprogrammen auch Kultur verloren geht. Also wurde der Film verboten. Das offizielle China weiß gar nicht so richtig, wie es mit einem solchen Film umgehen soll.

Wir werden China dieses Jahr wieder im Wettbewerb haben, das kann sich aber bis zum letzten Moment immer ändern. Wir wissen momentan gar nicht so richtig, welche Filmpolitik China hat, denn es gab zuletzt kaum Filme von dort wegen der Pandemie. Ich habe mir auch Propagandafilme zum Beispiel über einen Volleyballspieler angesehen, die sind aber für die Berlinale nicht interessant. Die Rhetorik dieser Filme ist einfach zu heftig, aber wir haben auch einige gefunden, die deutlich differenzierter sind. Es gilt wie auch für den Iran: Die Tradition des chinesischen Films ist riesig.

tipBerlin Die deutsche Öffentlichkeit ist gespalten darüber, welche Unterstützung die Ukraine erhalten soll. Der Iran dagegen ist für die größere Mehrheit schon fast außerhalb des Blickfelds. Was kann ein Filmfestival denn da zu den Debatten beitragen?

Mariette Rissenbeek Das Kino gibt emotionale Eindrücke von konkreten Wirklichkeiten. Wir können mit unserem Programm Situationen besser verständlich machen,  zum Beispiel nachvollziehbar machen, was die Menschen in der Ukraine erleiden. Das kann unsere Rolle als Festival sein, dass Menschen sich mit konkreten Umständen stärker auseinandersetzen.

Carlo Chatrian Dieses Jahr geht es uns besonders darum, dass die Berlinale eine Plattform dafür wird, den Diskurs zu öffnen. Sean Penn wird mit seinem Film über Selenski auf der Berlinale sein.  Ein Film, der uns wichtige Informationen über die Rolle von Künstler:innen im Krieg vermittelt. Wir erfahren hier zum Beispiel, dass Sean Penn sich auch an Joe Biden gewandt hat und dazu beigetragen hat, dass der amerikanische Präsident die Ukraine besser verstanden hat. So etwas können Stars bewirken. Wichtig ist dann aber auch, dass sich die Leute andere Filme ansehen. Wir glauben, dass die Strahlkraft der Berlinale dazu beitragen kann.

tipBerlin Deutsche Filme sind im Wettbewerb so stark vertreten wie noch nie: fünf Titel.

Chatrian: „Berliner Schule, was immer das ist“

Carlo Chatrian Ich habe das schon öfter gesagt, und wir beweisen das auch wieder: Wir arbeiten nicht mit Quoten. Mal ist es so, mal ist es anders. Dieses Jahr ist sehr reich und sehr stark, das sind wirklich gute Filme. Fünf hatten wir noch nie. Die Filmemacher sind stark und robust, sie können mit Kritik und Konkurrenz umgehen, damit müssen sie sicher rechnen. Margarethe von Trotta beschäftigt sich mit Ingeborg Bachmann auf eine sehr frische lebendige Weise.

Einige Vertreter gehören auch der Berliner Schule an, was immer das ist, ich persönlich weiß es nicht. Ich sehe einen Film von Christian Petzold oder Angela Schanelec in erster Linie als starke Autorenfilme. Angela Schanelec hat wieder in Griechenland gedreht und eine lose Adaption des Ödipus-Mythos vorgelegt. Christoph Hochhäuslers Film Noir „Bis ans Ende der Nacht“ spielt auf eine interessante Weise mit Genre und hat eine großartige Performance. Und der fünfte Film ist von Emily Atef, ein erotischer Film, das brauchen wir auch, nicht zum Gaffen, sondern weil die Erotik Teil des Lebens ist. Es wurde zuletzt zunehmend schwieriger, nackte Körper zu filmen, Männer oder Frauen. Atef wagt sich an diese Herausforderung. Die deutschen Filme sind alle sehr unterschiedlich. Ich hoffe, die Menschen schauen sie sich nicht als deutsche Filme an, sondern einfach als gute Filme.

tipBerlin Im Vorjahr war die Berlinale durch Covid noch stark behindert. Dieses Jahr sollte es keine Restriktionen beim Kinobesuch mehr geben. Die ganze Branche hofft auf einen Aufbruch. Kann die Berlinale da ein Motor sein?

Mariette Rissenbeek Die Berlinale hat eine starke Medienpräsenz. Die Menschen in Berlin kriegen es mit, wenn Festival ist, auch wenn sie selber vielleicht gar nicht hingehen. Wir zeigen Filme und präsentieren die Menschen, die Filme machen, und zeigen dabei auch, dass sie immer noch relevant sind für die Gesellschaft. Wir haben natürlich Verbindungen mit der Branche vor Ort, das ist wichtig für ein Festival in einer großen Stadt wie Berlin. Wir werden Wege finden, dass die Kinos mit den Filmen arbeiten können, die wir vorschlagen.

tipBerlin Die Berlinale hat dieses Jahr einige logistische Herausforderungen zu bewältigen, denn die beiden langjährigen Festivalkinos am Potsdamer Platz fallen ganz oder teilweise weg. Wäre es nicht angebracht, die Stadt Berlin (und auch den Bund) stärker in die Verantwortung zu rufen? Andere Städte investieren stark in ihre Festivals und bauen dafür eigene Infrastrukturen. Ich denke an Toronto.

Mariette Rissenbeek Das gehört in den Bereich der Träume. Ein Berlinale-Festivalzentrum, das allen Ansprüchen genügen würde, müsste sehr groß sein …

Carlo Chatrian Toronto ist kein gutes Beispiel, denn dort gibt es auch Probleme mit einem Multiplex in zentraler Lage. Aber es gibt Städte, die ein großes Gebäude haben. Hier sind wir in der Hauptstadt von Deutschland, da wäre so etwas noch sinnvoller, jedes Gebäude hier ist als Investition in Kultur noch bedeutsamer. Es müsste dann aber auch eine Nutzung während des Jahres haben. Wir bauen dieses Jahr unseren eigenen Saal in der Verti Music Hall, wir mieten uns da ein. Mal sehen, wie das wird. Die Kinostandorte gehen verloren, also brauchen wir Popup-Lösungen, und das hilft dem Kinoleben in der Stadt nicht. Aber wie gesagt, das ist eine Frage, die über unsere Zuständigkeit hinausgeht.

Mariette Rissenbeek Es gibt Pläne für ein Filmhaus, da sind wir auch in Gesprächen mit der BKM, da gibt es aber auch Grenzen für die Nutzung.

Carlo Chatrian Das wird sicher kein großer Filmpalast.

tipBerlin Abschließende Frage: Sie widmen dieses Jahr Steven Spielberg eine Hommage? Warum er, warum gerade jetzt?

Carlo Chatrian Spielberg ist einer der größten Filmemacher in der Geschichte. Wir denken bei ihm an eine Idee von Kino, das Stichwort ist bigger than life, und nachdem das Leben in den letzten Jahren sehr eingeschränkt war, erscheint uns das jetzt passend. Mit Spielberg erinnert uns das Kino daran, dass wir uns in ein größeres Format denken können. Davon handelt auch sein neuer Film, in dem er im Grunde seinen eigenen Weg zum Kino erzählt. Wir mögen „The Fabelmans“ sehr, und so traf es sich sehr gut, und wir waren sehr glücklich, als er unsere Einladung einnahm. Er hat auch starke Beziehungen zu Deutschland und Berlin, das Publikum wird sich freuen über ihn.


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