Giacomo Abbruzzese erzählt im Film „Disco Boy“ von der Fremdenlegion zwischen Belarus, Nigeria und Frankreich: ein magisch-mystischer Trip mit dem großartigen Franz Rogowski in der Hauptrolle. Unsere Kritik zu einem der Höhepunkt im Berlinale-Wettbewerb.
Berauschend experimentell: „Disco Boy“ mit Franz Rogowski
Die französische Fremdenlegion gibt jedem eine zweite Chance, so heißt es. Aleksei kommt von weit her, um sie wahrzunehmen. Von Belarus aus verschlägt es ihn über Polen und Paris schließlich ins Nigerdelta, wo er im Rahmen einer Geheimoperation die von einer Rebellenorganisation genommenen Geiseln befreien soll. Die Aufständischen kämpfen gegen die Ausländer, deren Erdölfelder ihren Lebensraum zerstören; Aleksei muss feststellen, dass er auf der falschen Seite steht; und zu allem Übel hat er sich bereits schuldig gemacht.
Das liest sich zwar stringenter, als es auf der Leinwand aussieht, hilft aber weiter, wenn man sich am Ende von Giacomo Abbruzzeses konventionsbefreitem Spielfilmdebüt „Disco Boy“ fragt, welch wundersames Wesen einen da wohl gerade getreten haben mag.
„Disco Boy“ ist auch eine Gespenstergeschichte
Also nochmal anders: Unterwegs im Deltadschungel trifft Aleksei auf Jomo, den Rebellenführer, er hat verschiedenfarbige Augen; später trifft Aleksei in Paris auf Udoka, dessen Schwester, auch sie hat verschiedenfarbige Augen; am Ende wird Aleksei, der die Aufgabe, mit Udoka zu tanzen, von Jomo übernommen hat, ebenfalls verschiedenfarbige Augen haben. Denn es ist eine Gespenstergeschichte, auch, und eine der Versöhnung. Es ist eine Geschichte mit politischer Dimension, die sich ins Mystisch-Magische ausstreckt und dort Sinn wie Erfüllung findet.
Ein Bild von magnetischer Anziehungskraft
Aleksei wird gespielt von Franz Rogowski, der nicht viele Worte braucht, um eine Menge auszudrücken. Er hält den Film in seinem Innersten zusammen, bildet das energetische Zentrum, an das sich eine zwischen Dröhnen, Wabern und Krachen oszillierende Soundscape des französischen Elektromusikmeisters Vitalic anlagert. Zumeist schälen sich die Konturen aus der Dunkelheit und aus den Schatten, zwischendurch aber blickt Hélène Louvarts Kamera durchs Nachtsichtgerät, unternehmen die solcherart entstehenden Wärmebilder einen Ausflug ins berauschend Experimentelle, droht die ganze Chose in einer Art Feuerwerksexplosion auseinanderzufliegen.
Dann, als würde der Film einatmen, holen Großaufnahmen von Gesichtern und Augen alles wieder zusammen, verdichtet sich das betörend lose geflochtene, narrative Gespinst erneut. In seiner Dramaturgie erinnert „Disco Boy“ an die pumpenden Bewegungen einer Qualle, die fragil und befremdlich durch geheimnisvolles Terrain schwebt – ein Bild von magnetischer Anziehungskraft und nicht ungefährlich. Alexandra Seitz
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