Berlinale 2023

Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“: Extreme kreative Energie

Nicolas Philibert erzählt in seinem neuen Film „Sur l’Adamant“ von einer psychiatrischen Tagesklinik in Paris. Sein Blick ist offen und neugierig, und diejenigen, die sich in der Klinik am Seine-Ufer aufhalten, sind ausgesprochen charismatisch. Die Kritik zum Film, der bei der 73. Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde.

Eine Szene aus „Sur l’Adamant“ von Nicolas Philibert. Foto: TS Production / Longride
Eine Szene aus „Sur l’Adamant“ von Nicolas Philibert. Foto: TS Production / Longride

Klinik als Paradies auf Zeit: „Sur l’Adamant“

Nicolas Philibert ist ein zutiefst humanistischer Dokumentarist, im Mittelpunkt seines Kinos steht der Mensch, der sich an andere Menschen wendet. Sechs Jahre vor seinem bislang größten Kinoerfolg „Haben und Sein“ (2002) hat Philibert bereits einmal – für „La moindre des choses“ (1995) – mit seiner Kamera die Theaterproben in einer experimentellen,  psychiatrischen Klinik (La Borde) begleitet.

In seiner jüngsten Arbeit ist er mit einer Co-Regisseurin, der Psychoanalytikerin Linda de Zitta, erneut in eine psychiatrische Institution zurückgekehrt –  in jene Tagesklinik, die seinem Film den Titel gibt: Die Adamant ist ein Schiff, das seit rund zehn Jahren nahe der neuen Nationalbibliothek am rechten Seine-Ufer vor Anker liegt. Als modernste Tagesklinik in der Pariser Innenstadt ist sie ein Ort für chronisch kranke psychiatrische Patienten, ein Paradies auf Zeit.

Philibert blickt auf dieses Schiff, als gäbe es kein Außen. Er findet das Bild einer ins Leben übersetzten Utopie, in der alle Träume der Reformpsychiatrie der 1970er-Jahre realisiert scheinen: ein gemeinschaftlicher Umgang auf Augenhöhe, Medikation als Unterstützung, Integration in eine Gemeinschaft inmitten der Stadt. Das Leid in dieser Welt ist von Philibert beinahe ausgespart, es kommt nur manchmal in den Patientenberichten von anderen Zuständen in den Film zurück.

Der Regisseur und seine (möglicherweise naive) Hoffnung

Dass Philibert kaum je über den Rand dieses Bootes hinauszublicken will, lässt die Welt am Fluss im Kontrast zur gewöhnlichen Pariser Klinikrealität idealisiert erscheinen. Aber es geschieht tatsächlich aus der (möglicherweise sehr naiven) Hoffnung des Regisseurs, sein Idealbild würde die eigentliche, oft sehr reformbedürftige und von immer mehr Sparzwängen bedrohte Realität der französischen Psychiatrie umso stärker hervortreten lassen.

Die Figuren,die Nicolas Philibert im Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“ begleitet, sind oft enorm charismatisch. Foto: TS Production / LongrideFoto: TS Production / Longride
Die Figuren,die Nicolas Philibert im Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“ begleitet, sind oft enorm charismatisch. Foto: TS Production / LongrideFoto: TS Production / Longride

Eine der Pointen seines neugierigen, offenen Blicks, liegt darin, dass sich in den ausgewählten Mikrogeschichten etwas spezifisch Französisches abbildet, ein Paralleluniversum, das Klischees sichtbar macht und davon abweicht. „Sur l‘Adamant“ findet in den Beiträgen der oft enorm charismatischen Patient:innen die Schlager- und Popkultur Frankreichs wieder, dazu eine allumfassende Cinephilie bis hin zu Wahngeflechten, die mit extrem kreativer Energie in die feinsten Fasern von Kinoklassikern oder Filmbiographien hineinwachsen, so lebendig, dass sie jederzeit eigene Porträts tragen könnten.

„Sur l’Adamant“ ist Teil einer Trilogie

„Sur l‘Adamant“ ist der erste Teil einer Trilogie, die die Menschen (darunter Protagonisten aus diesem Film) in psychiatrische Krankenhaus-Stationen und, in einem dritten Film, in ihr Zuhause begleiten wird. Auserzählt ist diese Geschichte lange noch nicht. Robert Weixlbaumer


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