Berlinale

Goldener Bär für „Drømmer“ („Dreams“): Die Filmkritik

„Drømmer“ („Dreams (Sex Love)“) ist der dritte Teil der Trilogie des norwegischen Regisseurs Dag Johan Haugerud, nach „Sex“ und „Love“. Der Film folgt der 16-jährigen Johanne, die sich in ihre Lehrerin Johanna verliebt. Er liefert zauberhafte Bilder und stellt interessante Fragen, verfängt sich aber gegen Ende in seiner selbstgewählten Uneindeutigkeit. Marit Blossey hat den Film gesehen, der bei der Berlinale 2025 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde.

„Drømmer“ (internationaler Titel: „Dreams (Sex Love)“) läuft im Wettbewerb der Berlinale 2025. Foto:  Agnete Brun
„Drømmer“ (internationaler Titel: „Dreams (Sex Love)“) läuft im Wettbewerb der Berlinale 2025. Foto: Agnete Brun

Nichts ist so intensiv wie die erste Liebe

„Drømmer“ (Dreams) erzählt von der 16-jährigen Johanne (Ella Øverbye), die sich zum ersten Mal Hals über Kopf verliebt. Ihre Gefühle für die neue Lehrerin Johanna (Selome Emnetu) – eine Künstlerin, die als Quereinsteigerin an die Schule kommt – finden Ausdruck in kurzen Blicken auf dem Schulflur und der Aufmerksamtkeit, die sie für ihre Französisch-Aufgaben erhält. Viel näher kommen sich die beiden zunächst nicht. Johannes Verliebtheit wird durch diese Unerreichbarkeit nur noch verstärkt.

In dem Versuch, ihre neu entdeckten, intensiven Emotionen in Worte zu fassen und keinen Augenblick dieser ersten Verliebtheit zu vergessen, schreibt Johanne die ganze Geschichte auf. Als ihre Mutter und Großmutter Johannes Text lesen, reagieren sie zuerst schockiert, sind aber gleichzeitig fasziniert von der literarischen Qualität des Geschriebenen. Doch der Text wirft auch Fragen auf: Was ist wirklich passiert an dem Nachmittag, als Johanne zum ersten Mal zu Johanna nach Hause fuhr? Hat die Lehrerin ihre Machtposition ausgenutzt? Wo verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fantasie? Überraschung, Unsicherheit, Stolz und auch Neid mischen sich in die Reaktionen der beiden Frauen.

Selome Emmetu und Ella Øverbye in „Drømmer“. Foto: Agnete Brun

„Drømmer“ wird aus Johannes Perspektive erzählt, getragen vom Voiceover, der die Zuschauer:innen durch das Geschehene führt wie ein Roman. Haugeruds Hintergrund als Schriftsteller und Bibliothekar kommt hier zum Ausdruck: Der Film zeugt auf subtile Weise von der Idee, dass Literatur als Medium dient, um Gefühle und Erinnerungen zu konservieren. Der Versuch, Erlebnisse zu verarbeiten und in Worte zu fassen, wird hier zum zentralen Thema. Es ist eine Liebeserklärung an die Literatur und die Kunst, die Welt zu dokumentieren und zu deuten.

Realität vs. Projektion

Dabei spiegelt der Film die Verletzlichkeit und das intensive Gefühl der ersten Liebe wider. Diese Darstellung ist sensibel und authentisch, und die künstlerische Kameraarbeit verstärkt die emotionale Wirkung der Erzählung. Der Film lebt von der Perspektive der jungen Johanne, was bedeutet, dass wir die Lehrerin vor allem durch ihre Augen sehen. Johanna wird somit mehr zur Projektionsfläche für Johannes Gefühlen und Vorstellungen, was die Frage aufwirft, inwieweit sie selbst in der Situation selbstbestimmt und verantwortungsvoll gehandelt hat.

Die generationalen Unterschiede zwischen Johanne, ihrer Mutter und ihrer Großmutter, die sich an dem Text abarbeiten, bringen eine interessante Dimension in die Erzählung, die die unterschiedlichen Perspektiven auf Liebe und Macht hinterfragt. Trotz der vielen positiven Aspekte, wie der gelungenen Darstellung der ersten Verliebtheit und der literarischen Erzählweise, lässt „Drømmer“ sein Publikum am Ende in einer gewissen Ambivalenz zurück.

Der Film gibt viele spannende Denkanstöße, scheitert aber daran, eine Aussage zu treffen, ohne dass dies in seiner Erzählweise konsequent durchdacht wird. Die Darstellung von Johanna bleibt bis zum Ende von Johannes Perspektive geprägt, was durchaus ein interessantes Stilmittel ist. Die Lehrerin bleibt somit eine ungreifbare Figur, ein Spiegel von Johannes Gefühlen, und lässt Raum für spekulative Deutungen. Doch diese Perspektive bedeutet auch, dass der Film die Chance verpasst, eine tiefere Auseinandersetzung mit der Lehrerin als eigenständigem Charakter zu ermöglichen.

„Drømmer“ („Dreams“) will nicht als queerer Berlinale-Hit hervorstechen

Ein bemerkenswertes Element ist außerdem die Entscheidung des Films, die queere Dimension der Geschichte nicht explizit hervorzuheben. Hier sticht eine Szene heraus, in der die Mutter das Geschriebene der Tochter als Zeugnis ihres „Queer Awakening“ bezeichnet, was Johanne jedoch vehement zurückweist. Diese Zurückweisung kann als eine bewusste Entscheidung des Films verstanden werden, die Geschichte in einer Art utopischer Realität zu erzählen, in der queeres Begehren völlig selbstverständlich und unproblematisch ist.

Diese Entscheidung, sich nicht auf eine queere Perspektive festzulegen, kann als Stärke oder Schwäche verstanden werden. Einerseits lässt es sich als positive, idealisierte Vision einer Welt deuten, in der die sexuelle Orientierung keine gesellschaftlichen Hürden mehr mit sich bringt – eine Realität, in der Johanne sich nicht mit Fragen der Identität oder der gesellschaftlichen Akzeptanz auseinandersetzen muss.

„Drømmer“ blendet die Realitäten von queeren Jugendlichen aus

Andererseits kann man diese Darstellung auch als unrealistisch, naiv oder sogar problematisch empfinden, da sie die oft komplexen und mitunter schmerzhaften Realitäten von queeren Jugendlichen ausblendet. Indem der Film diese Dimension einfach als gegeben und normalisiert darstellt, nimmt er sich die Möglichkeit, eine Geschichte von „queer euphoria“ zu erzählen – eine Geschichte, in der queere Identität nicht nur als selbstverständlich akzeptiert, sondern auch gefeiert wird. Stattdessen fühlt es sich an, als würde der Film auf eine Weise von der queeren Erfahrung abstrahieren, die es ihm nicht erlaubt, die ganze Tiefe und Bedeutung dieses Moments zu erfassen.

So bleibt die Frage offen, ob „Drømmer“ eine neue, transformative Erzählweise für queere Liebe bieten wollte oder ob der Film lieber in einer idealisierten Welt bleibt, in der Heteronormativität einfach keine Wirkungsmacht hat. Insofern fühlt sich der Film, trotz seiner vielen Stärken, am Ende etwas vage und unausgegoren an – als ob er zwar ein bedeutendes Thema anstrebt, es jedoch nicht ganz erfasst.


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