Berlinale

Zeit der Ernte: „Living the Land“ im Wettbewerb

Der chinesische Film „Living the Land“ (Originaltitel: „Sheng xi zhi di“) von Huo Meng bilanziert Chinas große (und brutale) Sprünge in die Moderne. tipBerlin-Kritiker Bert Rebhandl findet: Der Berlinale-Wettbewerb beginnt mit einem starken Beitrag.

„Living the Land“: Huo Meng erzählt von Tradition und Moderne in China. Foto: Floating Light (Foshan) Film and Culture

China hat im 20. Jahrhundert vielleicht einen der größten Sprünge in der Geschichte gemacht. Aus einer weitgehend agrarischen wurde innerhalb weniger Jahrzehnten eine moderne Gesellschaft mit Internet und starker Urbanisierung. Diesen Übergang konzentriert Huo Meng in „Living the Land“ auf eine radikal verdichtete Zeitspanne. 1991 lebt der kleine Chuang mit seinen Verwandten in einem Dorf in der Nähe von Wuhan. Er wurde von seinen Eltern zurückgelassen, die schon in der Stadt leben und arbeiten. Es sind die Jahre, in denen plötzlich alle vom „Süden“ sprechen – in Shenzhen wurde damals eine Sonderwirtschaftszone geschaffen, in der Grundlage für den wirtschaftlichen Aufstieg der Volksrepublik China gelegt wurden.

Chuang ist ein unglückliches, sensibles Kind, ein Zeuge der allgegenwärtigen Veränderungen. Er lebt inmitten einer komplexen Dorfgemeinschaft, in der die Spuren vergangener Ereignisse nachwirken – die Geschichte beginnt mit der Exhumierung und Umbettung eines Leichnams, später werden weitere Details aus der vorkommunistischen Zeit und dann aus der Kulturrevolution bekannt. Auch das bäuerliche Leben verändert sich, es kommt der erste Traktor, zugleich gelten weiterhin die kollektiven Praktiken während der Erntezeit, für die selbstverständlich auch die Schulkinder Ferien bekommen.

Chuang ist ein sensibles Kind. Foto: Floating Light (Foshan) Film and Culture

Huo Meng lässt „Living the Land“ wie einen Dokumentarfilm wirken

Huo Meng erzählt das alles in scheinbar beiläufigen Szenen, in denen häufig viele Menschen im Bild sind – alles ist kollektiv geprägt, die Menschen reden durcheinander und aneinander vorbei, alles wirkt improvisiert und ist doch in hohem Maß gestaltet. Huo Meng lässt „Living the Land“ wie einen Dokumentarfilm wirken und zeigt sich zugleich als hoch bewusster Regisseur, der alles aufspürt und einbaut, was an ältester Kultur zum Beispiel bei den Bestattungsritualen eine Rolle spielt. Aber auch die Eheschließung der 21 Jahre alten Yiuying soll nach traditionellen Vorstellungen stattfinden – leise weint die junge Frau bei der Wäsche am Fluss in sich hinein.

Die Volksrepublik China hat sich in den letzten Jahren auch kulturell immer stärker isoliert – der riesige Heimatmarkt ist längst der amerikanischen Popkultur ebenbürtig. Das konnte man am Tag der Berlinale-Eröffnung auch sehen, als die Schauspielerin Fan Bingbing über den roten Teppich ging. Sie ist Mitglied der internationalen Jury bei der 75. Berlinale – und war an diesem Abend der am stärksten umjubelte Star.

Akt des Ausgleichs zwischen der „politischen“ Berlinale und einem zunehmend oppressiven Regime

„Living the Land“ kommt nun als eine Überraschung nach Berlin. Denn so deutlich wurde schon länger nicht mehr angesprochen, wie hoch der Preis für die chinesische Entwicklung war – und auch, wieviel Kultur in der Überwindung von „Rückständigkeit“ verloren ging. Zugleich finden die extremen Brüche bei Huo Meng eine klassische, gleichmütige, man könnte sagen: schon verarbeitete Form. Sein Film bietet also sowohl für das Regime in Beijing wie für das internationale Festivalpublikum eine plausible Form. Das ist allein schon ein interessanter Akt des Ausgleichs zwischen der „politischen“ Berlinale und einem zunehmend oppressiven Regime. „Living the Land“ ist in seinem gleichsam natürlichen Rhythmus ein echtes Kinoerlebnis und bietet auch Diskussionsstoff. Der Wettbewerb beginnt mit einem starken Beitrag.


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Noch ein chinesischer Film im Berlinale-Wettbewerb 2025 ist „Girls on Wire“ – hier ist die Kritik. Zur Eröffnung haben wir „Das Licht“ von Tom Tykwer gesehen – die Filmkritik. Er lebt mittlerweile in Hamburg und ist im Berlinale-Wettbewerb mit „Yunan“ vertreten: Wer ist der Regisseur Ameer Fakher Eldin? Er präsentiert seinen zweiten Film „Was Marielle weiß“ im Berlinale-Wettbewerb: Wer ist der Regisseur Frédéric Hambalek? Vom Kiezkino bis zu ehrwürdigen Filmtheatern: Diese Kinos sind die Spielstätten der Berlinale 2025. Ihr braucht einen Überblick? Filmtipps für die Berlinale 2025 mit Empfehlungen für jede Sektion. Filmprominenz im Blitzlichtgewitter: Diese Stars kommen 2025 zur Berlinale. Welche Filme laufen, wann und wo findet ihr das vollständige Programm? Alle Infos rund um das Programm der Berlinale. Wann beginnt der Verkauf, wo gibt es Tickets? Alles, was ihr zum Ticketkauf der Berlinale wissen müsst. Die Jury um Todd Haynes wird ihre Freude haben am Berlinale-Wettbewerb 2025, der spannend und ausgeglichen werden dürfte. Was läuft sonst? Hier ist das aktuelle Kinoprogramm für Berlin. Mehr aus der Filmwelt lest ihr in unserer Kino-Rubrik. Und alles zum Festival steht in unserer Berlinale-Kategorie.

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