Berlinale

„Was Marielle weiß“: Ein gnadenloses Highlight im Berlinale-Wettbwerb

„Was Marielle weiß“ nimmt die klaffenden Abgründe im Familienleben in den Blick. Frédéric Hambalek erzählt von einem Kind mit telepathischen Fähigkeiten – und bei dieser Sittenkomödie bleibt einem oft genug das Lachen im Hals stecken. Es ist eine Freude, dem Ensemble zuzusehen, sagt tipBerlin-Kritikerin Alexandra Seitz über dieses Highlight im Berlinale-Wettbewerb.

„Was Marielle weiß“: Laeni Geiseler spielt die Hauptrolle in Frédéric Hambaleks Berlinale-Wettbewerbsbeitrag. Foto: Alexander Griesser
„Was Marielle weiß“: Laeni Geiseler spielt die Hauptrolle in Frédéric Hambaleks Berlinale-Wettbewerbsbeitrag. Foto: Alexander Griesser

Nach einer Ohrfeige hat Teenager Marielle plötzlich telepathische Fähigkeiten. Genauer gesagt kann sie wahrnehmen, was ihre Eltern den ganzen Tag lang so treiben, und entdeckt dann beim Abendessen, dass sich dieses Tun und Sagen mit dem darüber Erzählten – Stichwort: „Wie war Dein Tag, Schatz?“ – so ziemlich gar nicht deckt. Schon klafft der erste Abgrund. Viele weitere werden folgen in „Was Marielle weiß“, dem deutschen Wettbewerbsbeitrag und, nach „Modell Olimpia“ (2020), zweiten Kinofilm von Frédéric Hambalek, den wir hier vorstellen.

Denn selbstverständlich glauben die Eltern dem Kind nicht, als es von seiner Gabe berichtet, die sich rasch als Fluch erweist; sie konfiszieren Marielles Tablet, unterstellen ihr das Hacken der Handys, bringen sie zum Arzt und müssen am Ende doch einsehen, dass die Zeiten ungestrafter Lügen und Halbwahrheiten vorbei sind. Und damit auch die des Selbstbetrugs und der Täuschungsmanöver sowie, daraus folgend, jene dieser lang schon langweilig gewordenen Ehe mitsamt Oberer-Mittelstandskulisse zwischen Manufactum und Designerscheiß, in der sie aufgeführt wird.

Eine gnadenlose Durchdringung des aus Verlogenheit, Manipulationsmanövern und Ausbeutungsstrategien zusammengesetzten Schmierfetts

Zwischen die pointierten Szenenfolgen sind Auszüge aus Streichquartetten von Beethoven und Schubert gesetzt, dramatisch-traurig-wütende Musik also, die dem allgemein statthabenden Gefühlsaufruhr adäquat zur Seite steht und zugleich analytische Form gibt. Es wäre eine fast schon fulminant zu nennende Sittenkomödie, die Hambalek hier nach eigenem Drehbuch inszeniert, bliebe einem nicht derart oft das Lachen im Halse stecken. Ist es also doch eine Tragödie?

Es ist eine Freude, Julia Jentsch und Felix Kramer im komplexen Film „Was Marielle weiß“ zuzusehen. Foto: Alexander Griesser

Auf jeden Fall ist „Was Marielle weiß“ ein Highlight im Programm: Eine gnadenlose Durchdringung des aus Verlogenheit, Manipulationsmanövern und Ausbeutungsstrategien zusammengesetzten Schmierfetts, das ein familiales, soziales und gesellschaftliches Miteinander überhaupt erst möglich macht. Freilich, aus Marielles Perspektive, die in der rigorosen Moralität der Jugend wurzelt, sieht dieses Mit- eher wie ein Gegeneinander aus, und so wird aus ihrem Beharren auf Aufrichtigkeit und Wahrheit jener Stoff, der die Beziehungen der Zerreißprobe unterzieht.

„Was Marielle weiß“: Es ist eine Freude, dabei zuzusehen

Felix Kramer, Julia Jentsch und Laeni Geiseler als Vater-Mutter-Kind stellen sich der Herausforderung und spielen dieses komplexe Gewirr aus (Selbst-)Wahrnehmung und (Außen-)Darstellung vor dem Hintergrund einer immer mitschwingenden Angst, sich endgültig selbst (wer war das doch gleich?) zu verlieren, ohne Fehl und Tadel. Es ist eine Freude, ihnen dabei zuzusehen, wie sie Ebene um Ebene einziehen und Spiegel auf Spiegel türmen. Auch wenn das, was dann am Ende im Wege steht, ein zwar ziemlich hässlicher, dafür aber halt sehr gegenwärtiger Entwurf von Leben und Identität ist.


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