Höhepunkte

Berlinale: Woche der Kritik – diese Filme solltet ihr unbedingt anschauen

Sie gehört zur Berlinale – und ist auch von den besonderen Umständen 2021 betroffen. Wie viele Veranstaltungen findet auch die Woche der Kritik in diesem Jahr lediglich online statt, vom 27. Februar bis 7. März. Das sorgfältig kuratierte ­Festival des Verbands der Deutschen Filmkritik ist trotzdem unbedingt empfehlenswert. Wir haben schon einmal einen Blick auf die wichtigsten Filme geworfen.

Die Woche der Kritik wurde 2015 gegründet, weil es eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit der Programmierung der Berlinale gab. Nach dem Vorbild der Semaine de la critique in Cannes hat sich die Veranstaltung unter der künstlerischen Leitung des Kritikers Frédéric Jaeger rasch etabliert. 2021 verantwortet Dennis Vetter das Programm gemeinsam mit einer vierköpfigen internationalen Auswahlkommission.

Filme treten bei der Woche der Kritik in Paaren und unter einem Oberthema auf. Damit ist das Festival von vornherein deutlich strukturierter als die Berlinale, es kann sich den Luxus leisten, die kuratorische Arbeit stärker erkennbar zu machen. In diesem Jahr gibt es Themen wie Übererkennung oder Durchblick, bei denen erst die Filme zeigen werden, was damit genau gemeint ist.

Traditionell gehört zur Woche der Kritik auch eine Konferenz, die am 27. und 28. Februar unter dem Motto „Konsequentes Handeln, Inkonsequentes Kino“ stattfinden wird – digital, wie die gesamte Veranstaltung 2021, mit der sich nichtsdestoweniger deutlich die Hoffnung verbindet, sie möge die Rückkehr ins Kino einläuten. Alle Informationen zum Festival unter wochederkritik.de


Red Post on Escher Street

Red Post on Escher Street. Foto: 2021”Red Post on Escher Street” Film Partners

Zeitlebens hat Sion Sono mit all seinen Filmen, seinen Horror-, Sex- und Gewaltschockern und dem sonstigen schrägen Kram, den er produziert, gegen das traditionelle japanische Kino angekämpft, jene gediegenen häuslichen Dramen, in denen sich die Protagonist*innen irgendwann ins Unausweichliche schicken. In Sion Sonos Filmen schickt sich niemand in irgendwas: Seine Figuren toben und schreien bis hart an die Grenze zur Karikatur über die Leinwand, und sie wissen meist genau, was sie wollen: Sie sind eindeutig lebendig, selbst wenn sie schon tot sind.

In dieser Hinsicht ist sein jüngster Film „Escher dori no akai posuto“ („Red Post on Escher Street“) eine Art Quintessenz seines Schaffens: In zweieinhalb Stunden fegt die schrille Komödie durch das Dasein von Amateurschauspieler*innen (und einem Gespenst), die sich bei einem Casting für den neuen Film des Regisseurs Kobayashi die große Chance erhoffen, vermengt dabei Leben und Vorsprechen zu einer quirligen Melange.

Eigentlich castet Kobayashi für die weibliche Hauptrolle, doch seine Produzenten haben längst beschlossen, einen Star zu besetzen. Da wären die anderen also wieder nur auf die Statistenrollen zurückgeworfen – wenn es nicht am Ende einen brillanten Akt der Revolte gäbe, der nicht nur die Filmproduktion erfasst: Sei kein Statist in deinem eigenen Leben! Verlange die Hauptrolle! Kann man nur unterschreiben.  Lars Penning

  • Escher dori no akai posuto J 2020, 147 Min., R: Sion Sono

An Unusual Summer

An Unusual Summer. Foto: Kamal Aljafari Studio

Aus einem Fenster in der Stadt Ramle in Israel sieht man eine Straßenecke, an der meist drei, manchmal vier Autos geparkt sind. Dahinter ein Garten, ein Baum, dessen Äste über den Zaun hängen. Vor Jahren wurde bei dem Auto des Vaters von Kamal Aljafari dreimal hintereinander eine Scheibe eingeschlagen. Der Vater installierte daraufhin eine Überwachungskamera, deren Bilder die Grundlage des Films „An Unusual Summer“ bilden, den die Woche der Kritik im Rahmen der Debatte über „Vom Suchen und Finden der Bilder“ zeigt.

Meist ist nichts Besonderes zu sehen. Für kundige Betrachter aber eröffnet sich in den zufälligen Bildern auf dem immer gleichen Bildausschnitt eine Welt. Es ist eine Welt der palästinensischen Diaspora, wie sich allmählich herausstellt. Kamal Aljafari gehört zu einer Familie, die in Israel in einem Ghetto lebt.

„An Unusual Summer“ ist eine großartige Meditation über die Spuren des Menschlichen in der Geschichte. Bert Rebhandl

  • An Unusual Summer D/PS 2020; 80 Min.; R: Kamal Aljafari

Fauna

Fauna. Foto: INTERIOR 13 CINE

Der weltweite Erfolg von Serien hat die Wahrnehmung von narrativen Strukturen verändert – damit spielt der mexikanische Regisseur Nicolás Pereda in seinem Spielfilm „Fauna“. Mit klassischem Erzählkino hat das nur sehr wenig zu tun, vielmehr scheinen seine Figuren allesamt auf der Suche nach einer Narration zu sein. Ausgangspunkt ist der Besuch des Paares Luisa (Luisa Pardo) und Paco bei ihren Eltern irgendwo in der mexikanischen Provinz. Luisa ist angehende Schauspielerin, Paco hat bereits eine Rolle in der populären Netflix-Serie „Narco: Mexico“ ergattert (was auf den Paco-Darsteller Francisco Barreiro tatsächlich zutrifft).

Abends in der Kneipe verlangt Luisas Vater von Paco, etwas vorzuspielen. Nachdem eine etwas absurde mimische Darstellung seines dialoglosen Nebenrollenparts keine Begeisterung hervorruft, versucht er es sodann mit der genregemäß konventionelleren Darstellung eines großen Drogenbosses: Gib dem Publikum, was es will. 

Am nächsten Tag ist noch einmal alles anders: Ausgehend von einem Buch, das Luisas Bruder nur ansatzweise gelesen hat, finden sich alle Protagonist*innen in neuen Rollen in einer scheinbar sinnlosen Erzählung wieder, in der wie in einem Serien-Spin-Off (das „Narco: Mexico“ von der ursprünglich in Kolumbien spielenden Serie ist) nach und nach immer neue Handlungsstränge und Figuren hinzugefügt werden, ehe sich das Ganze ohne Auflösung im Nirgendwo verläppert. Ein Schelm, wer Schlechtes dabei denkt. Intellektuelles Vergnügen, nicht ohne hintergründigen Humor. Lars Penning

  • Fauna MEX/CDN 2020, 70 Min., R: Nicolás Pereda

Un musée dort

Un Musée dort. Foto: Camille De Chenay/ Maxime Bonan

Ein junger Mann verbringt eine Nacht im Freien. Am Morgen tätschelt er freundlich den Baum, der ihm Schutz gewährt hat. Der Baum kann auch sprechen, er unterhält sich mit einem weiblichen Baum über dies und jenes, und über den jungen Mann. In Camille de Chenays „Un musée dort“ („Ein Museum schläft“) ist alles auf geheimnisvolle Weise mit allem verbunden, nicht zuletzt die Kunst mit der Wirklichkeit. Ein Museum mit Bildern von Gustave Moreau, eines Symbolisten aus dem 19. Jahrhundert, ist Ort der Begegnung zwischen dem jungen Mann Ornicar/Ornorso und der jungen Claire. Ihre Liebe gehört der Vergangenheit an, er hat sie für ein Jahr verlassen, um als ein anderer zurückzukommen. Aber hat die Liebe nun noch eine Chance?

„Ein Museum schläft“ passt hervorragend in die Debatte über „Kunstsprache“ auf der Woche der Kritik: ein verrätselter Film über das Thema, bei dem das französische Kino sich besonders kompetent fühlt (l’amour), und über die komplizierten Beziehungen zwischen Film und Welt. „Unsere Erinnerungen schlafen in den Bildern.“ Wann ist dann der Moment zum Erwachen? Bert Rebhandl

  • Un musée dort F 2020; 71 Min.; R: Camille de Chenay

Mehr zur Berlinale

Wir berichten immer wieder aktuell über die Berlinale – alle Beiträge hier. Einer, der nun zuschauen darf, ist der langjährige Berlinale-Leite Dieter Kosslick, seine Memoiren sind gerade erschienen. Der Lockdown trifft die Kinos: So steht es um die Zukunft der Branche.

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