Das gibt es auch nicht alle Tage: Als das Melodram „Elisa y Marcela“ am Mittwochmittag noch vor der eigentlichen Berlinale-Weltpremiere den akkreditierten Filmkritiker*innen vorgeführt wurde, gab es die ersten Reaktionen bereits vor dem eigentlichen Vorspann – und zwar, als das große rote N auf der Leinwand des Berlinale-Palasts prangte. Das Netflix-N. Ein paar Buhrufe verhallten, während andere Zuschauer*innen applaudierten oder gar „bravo“ riefen. Anscheinend hat Dieter Kosslick das richtig entschieden, eine Netflix-Produktion im Wettbewerb um die Bären konkurrieren zu lassen. 160 Kinobetreiber plädieren dagegen, mit dem Argument, der Film würde von Netflix nur gestreamt werden und nicht regulär im Kino laufen. Die Berlinale dementiert.
Wie schon die Netflix-Produtkion „Roma“, die in Venedig 2018 mit dem Goldenen Löwen prämiert wurde, ist „Elisa y Marcela“ in historisierendem Schwarzweiß fotografiert – ein interessanter Kontrapunkt zu den oft in Neonfarben leuchtenden Netflix-Serien. Doch keine Sorge, dieses Schwarzweiß strahlt. Und ebenso wie „Roma“ ist „Elisa y Marcela“ nicht im nervösen Tempo vieler Netflix-Serien erzählt, sondern angenehm und trefflich langsam. So kann man als Zuschauer*in aufs Schönste miterleben, wie die beiden titelgebenden Schülerinnen (und späteren Grundschullehrerinnen) sich einander nähern, mental wie körperlich. Wer allergisch gegen Anflüge von Softporn ist oder im Krieg mit einem Hauch Kitsch steht, der wird Pocken kriegen, zumal bei den frontal vorgetragenen Liebesbriefen.
Es sei aber auch gesagt, dass es sich hier nicht um die reaktionäre Art Kitsch à la Rosamunde Pilcher handelt, sondern um eine rare, progressive: Sichtbarkeit gleichgeschlechtlicher Liebe samt ihrer Sexualität. Fast unfassbar: Elisa verwandelt sich in einen Mann namens Mario und heiratet Marcela sogar 1901. Die wohl erste „Homo-Ehe“ Spaniens. Die Story beruht auf einer wahren Begebenheit! Doch als der „Schwindel“ auffliegt, zwingt ein gewalttätiger Mob die beiden Liebenden zur Flucht. In Portugal landen sie im Gefängnis. Wenn Streamingdienste dafür sorgen, dass solch sehr sehenswerte queere Geschichten neuerdings auch im kleinsten Dorf der Welt empfangen werden können, wo es kein Kino gibt – dann ist das eine überhebliche und überholte Position, diesen Filmen aus konservativ-kommerziellen Gründen ihren Status als Filmkunst zu verweigern. STEFAN HOCHGESAND