Verwitterte Gehöfte, überfrorener Moder, grau gewordene Schneemassen – im gerade noch 215 Einwohner zählenden Dorf Irénée-les-Neiges in der weiten Einöde Quebecs scheinen Menschen nichts mehr verloren zu haben.
Ein Auto rast durch die unwirtliche Weite und dreht nach links in eine Baustelle. Der 21jährige Simon hat sich das Leben genommen, und die Dorfbewohner beschwören einander, nun noch näher zusammenzurücken. Die Bürgermeisterin und Übermutter des Dorfes verdrängt dessen fortlaufenden Schrumpfungsprozess mit gnadenlosem Optimismus. Das unaufhaltsame Sterben der Gemeinde sucht sie mit Macht zu verhindern, bei der Beerdigung spornt sie ihre Leute mit Kriegsmetaphern zum Durchhalten an. Eine aus dem fernen Montreal zwecks psychologischer Hilfe in den Ort geschickte Frau, die nicht nur Städterin ist, sondern auch Kopftuch trägt, wird harsch gebeten, zu verschwinden – in Irénée-les-Neiges regelt man die Dinge unter sich.
Das mit Horror- und Fantasy-Elementen gespickte Drama „Répertoire des villes disparues“ von Denis Côté erzählt auf bedrückende und unheimliche Weise von Landflucht und der zunehmenden „Vergeisterung“ ländlicher Regionen in Kanada. Die Winter dauern ewig, Arbeit gibt es kaum noch; folgt man der Erzählung, scheinen Stadt oder Tod die einzigen Alternativen zu sein.
Denn im Anschluss an den Selbstmord wird der Horror, den viele lange nicht wahrhaben wollten, endgültig offenbar. Das Dorf wird von Gespenstern umlagert. Nicht nur die psychotische Adèle sieht Tote, die hier früher gelebt haben. Simons Geist erscheint seinem Bruder, die schweigenden Gestalten, die überall herumstehen, lassen sich nicht mehr verleugnen.
Die Bildsprache ist deutlich, im Zeitalter der Urbanisierung sind Ortschaften wie diese dem Untergang geweiht. Kinder mit Gespenstermasken, die in rostzerfressenen Stahlrohren vor schneeverwehten Horizonten spielen –Côtés Film hat eindrückliche Motive zu bieten. Das sprechende Schweigen der Dorfbewohner, die depressive Beklemmung sind stimmungsvoll inszeniert. Die betonte Darstellung von Schwermut und Langeweile in der zivilisatorischen Randzone aber greift notwendig auch auf den Zuschauer über. CHRISTOPH DAVID PIORKOWSKI