Das berühmte Anna-Karenina-Prinzip, demzufolge alle glücklichen Familien einander gleichen, jede unglückliche Familie aber auf ihre eigene Art unglücklich – und deshalb der entschieden bessere Erzählstoff – ist, qualifiziert Tolstois eigene Biografie als lohnendes Sujet. Michael Hoffman konzentriert sich in „Ein russischer Sommer“ auf die letzten Lebenswochen des adligen Schriftstellers, der sich seit den 1880er Jahren aus Entsetzen über das Elend der russischen Bauern, die Schrecken des Krieges und die Gleichgültigkeit des Establishments sozialreformerischen und religionskritischen Ideen zugewandt und eine an Gleichheit, Nächstenliebe und Verzicht orientierte Sekte gegründet hatte. Selbst zwischen Askese und Hedonismus schwankend, ist er in diesem Sommer 1910 Gegenstand heftiger Gefechte zwischen seiner Gattin Sofja Andrejewna, der engen literarischen Vertrauten und Mutter seiner 13 Kinder, und den puritanischen Gralshütern der guten Sache.
Der Film pflichtet der Gräfin bei und macht seine großbürgerlich-üppige Bildlichkeit und die sonnentrunkene Szenerie des Landguts zu einem Teil des Arguments. So skrupellos er Widersacher und Randgestalten in Skizze oder auch Karikatur erledigt, so feinsinnig nähert er sich der zerklüfteten Landschaft einer Ehe, in der zwei bei aller Strenge und Sturheit nicht voneinander lassen können. Diese Aufmerksamkeitskonzentration wird fast erzwungen von der Präsenz und schauspielerischen Brillanz Helen Mirrens und Christopher Plummers, die entsprechend prominent für die diesjährigen Oscars im Gespräch sind.
Text: Stella Donata Haag
tip-Bewertung: Sehenswert
Orte und Zeiten: „Ein russischer Sommer“ im Kino in Berlin
Ein russischer Sommer (The Last Station), Deutschland/ Russland/Großbritannien 2009; Regie: Michael Hoffman; Darsteller: Helen Mirren (Sofja Tolstoi), Christopher Plummer (Leo Tolstoi), James McAvoy (Valentin Bulgakov); Farbe, 112 Minuten
Kinostart: 28. Januar