Ein spröder, tief berührender Liebesfilm, um junge Männer aus Anatolien, die im Streben nach Wohlstand und Reichtum keine Moral kennen und andererseits Frauen auf der Suche nach einer anderen Wirklichkeit
Wenn da einer ist, der sich zu kümmern bereit ist, aber dafür Bedingungen stellt. Und wenn dann ein anderer auftaucht, um den sich zu kümmern man selbst bereit ist, aber man auch dafür wieder Richtlinien braucht. Wo verbirgt sich dann hinter all diesen Auflagen die Liebe? Marion (Anne Ratte-Polle) darf in Ilker Çataks zweitem Spielfilm in beide Rollen schlüpfen. Sie ist die Geliebte Raphaels (Godehard Giese), der sich, als bei Marion ein Tumor in der Brust diagnostiziert wird, bereit erklärt, an ihrer Seite zu sein. Aber sie entschließt sich auch, den um einiges jüngeren Türken Baran (Oğulcan Arman Uslu) zu ehelichen, den sie im Urlaub mit Raphael an der türkischen Mittelmeerküste kennengelernt hat.
Regisseur Ilker Çatak, dessen Großeltern ein Hotel in Marmaris am Mittelmeer betrieben, erzählt: „Nicht selten hatten wir Angestellte und Gäste, die sich in ähnlichen Konstellationen einfanden wie Baran und Marion. Einerseits junge Männer aus Anatolien, die im Streben nach Wohlstand und Reichtum keine Moral kennen und alles in Kauf nehmen, um ihren Traum von Europa wahr werden zu lassen. Andererseits Frauen auf der Suche nach einer anderen Wirklichkeit – nach Sinnlichkeit und Liebe.“
Ganz so holzschnittartig läuft es zwischen Marion und Baran nicht ab. „Es gilt das gesprochene Wort“ hat wenig mit Ulrich Seidls „Paradies: Liebe“ zu tun (auch wenn es am Anfang Szenen zwischen Touristinnen und Baran gibt, die daran erinnern). Çataks Film ist tatsächlich ein Liebesfilm. Und zwar einer, der tiefer berührt, als man sich das vielleicht eingestehen möchte. Ein Umstand, den man zumeist erst gegen Ende eines Films bemerkt, weil dann offenbar wird, wie tief man in diese Geschichte eingetaucht ist. Der Grund, dass es einen derart mitreißt, ist schlicht der, dass die Protagonisten selbst sich mitreißen lassen. Marions Eingebung, Baran mit nach Deutschland zu nehmen, ihn zu heiraten und die Chance auf ein anderes Leben zu ermöglichen, ist irrational. Barans Sprung in eine völlig andere Welt indes ist nicht minder riskant. Es ist der Stoff, aus dem große Begegnungen sind: wenn zwei etwas wagen.
Natürlich verläuft dies nicht ohne Schwierigkeiten. Wäre das der Fall, wäre Çataks Film Kitsch. Aber das ist er, trotz sich entwickelnder Romantik, niemals. Zu hart immer wieder der Crash, der vor allem von Marion ausgeht, die doch, allein aus beruflichen Gründen, darauf trainiert ist, eben diesen unbedingt zu vermeiden. Marion ist Pilotin. Man lernt sie also kennen als eine, die das Steuer in der Hand hält, finanziell unabhängig ist, ja, unabhängig sowieso. Sie kann es sich leisten, Baran ein eigenes Apartment anzumieten, wo er Deutsch lernt und außerdem Fahrräder repariert. Sie besorgt ihm auch einen Job auf dem Flughafen, wo er in der Gepäckabfertigung beginnt. Marions einzige Maßgabe: bloß keinen Stress mit der Polizei. Denn dann lässt sie die gemeinsame Sache platzen. Eine andere Grenze, die sie sich selbst setzt, vielleicht ohne es zuzugeben: bloß keine Gefühle!
Und Baran? Der empfindet längst, was Marion sich nicht eingestehen will, leidet aber unter der diktierten Asymmetrie, der Abhängigkeit von Marion. Raphael wiederum versteht die Welt nicht mehr und bringt dies äußerst giftig zum Ausdruck. „Es gilt das gesprochene Wort“ handelt eben auch davon, was geschieht, wenn man sich die Freiheit nimmt, sich zu verändern. Ob man die eigene Transformation aushalten kann. Auch dann, wenn andere einen dann vielleicht nicht mehr aushalten können.
Es gilt das gesprochene Wort D/F 2019, 120 Min., R: Ilker Catak, D: Anne Ratte-Polle, Oğulcan Arman Uslu, Godehard Giese, Jörg Schüttauf, Start: 1.8.