Interview

Andreas Dresen: „Ich möchte die Schematik durchbrechen“

Andreas Dresen ist im derzeitigen deutschen Kino der wichtigste Vertreter mit einer Ost-Biographie. Nun hat er einen Film über Widerstandskampf gegen das NS-Regime in Berlin gemacht. Im Mittelpunkt: Liv Lisa Fries als Hilde Coppi, die in der Haft ein Kind zur Welt brachte und bald darauf hingerichtet wurde. Ihr Sohn Hans Coppi war im Februar bei der bewegenenden Berlinale-Premiere dabei. Für den tipBerlin hat sich Andreas Dresen großzügig viel Zeit genommen, um nicht nur über „In Liebe, eure Hilde“ zu sprechen, sondern auch über seine Erfahrungen seit der Wende, seinen Blick auf die gegenwärtige Politik und sein Verständnis von Erfolg. Das Gespräch mit Bert Rebhandl fand im Filmmuseum Potsdam statt, wo es noch bis Ende des Jahres eine Ausstellung zu Andreas Dresen zu sehen gibt.

Regisseur Andreas Dresen hat mit uns über „In Liebe, eure Hilde“ und Erfahrungen seit der Wende gesprochen. Foto: Imago/dts Nachrichtenagentur
Regisseur Andreas Dresen hat mit uns über „In Liebe, eure Hilde“ und Erfahrungen seit der Wende gesprochen. Foto: Imago/dts Nachrichtenagentur

Andreas Dresen ist mit einem ganz anderen Bild von Widerstandskämpfern in der DDR groß geworden

tipBerlin Herr Dresen, eine wahrscheinlich ein bisschen unerwartete Einstiegsfrage: Haben Sie einen Lieblingssee in und um Berlin?

Andreas Dresen Ich bin meist am Schwielowsee bei Ferch in der Nähe von Potsdam. Da habe ich mit einem Freund gemeinsam ein fünfzig Jahre altes Segelboot, einen 15er Jollenkreuzer, auf dem lässt es sich wunderbar abhängen. Da kann man auch abends mal hinfahren und drauf pennen. Das ist sehr schön, um mal fünfe grade sein zu lassen.

tipBerlin Ich frage deswegen, weil Sie in Ihrem Film „In Liebe, eure Hilde“ auch sehr ausführlich zeigen, wie sich die Figuren – die alle im Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur aktiv sind – oft am See treffen. In diesem Fall am Lehnitzsee bei Oranienburg. Diese Alltäglichkeit war Ihnen wichtig, ja?

Andreas Dresen Es gibt nicht viele Fotos von dieser Gruppe. Aber die, die es gibt, sind in gewisser Weise romantisch. Sie sitzen am See, segeln, fahren Motorrad. Man kriegt ein Gefühl dafür, dass das junge Menschen waren, die von einer Zukunft geträumt haben. Das hat mich sehr gerührt, weil ich mit einem ganz anderen Bild von Widerstandskämpfern groß geworden bin in der DDR. Da waren sie so überlebensgroß und mutig, dass man gar nicht wagte, sich mit ihnen zu vergleichen. Dahinter steckte natürlich politische Absicht, denn so traute man sich selbst ja gar nicht erst, sich widerständig zu verhalten. Diese Form von Normalität wiederum, die ich auf den Fotos gefunden habe, macht Hilde, Hans und all die anderen sehr nahbar.

tipBerlin Liv Lisa Fries spielt Hilde Coppi, eine ganz normale junge Frau, die zur Gruppe stößt und bald wichtige Aufgaben übernimmt. Bis sie verhaftet wird.

„In Liebe, Eure Hilde“ läuft im Berlinale-Wettbewerb 2024. Im Foto: Liv Lisa Fries und Johannes Hegemann. Foto: Frederic Batier/Pandora Film
Szene aus „In Liebe, Eure Hilde“ mit Liv Lisa Fries und Johannes Hegemann. Foto: Frederic Batier/Pandora Film

Andreas Dresen Bei Hilde sind es nicht nur die kleinen Gesten. Sie tut Dinge, für die sie die Todesstrafe erhalten hat, sie transportiert ein Funkgerät, schreibt Briefe an Soldatenmütter und teilt ihnen mit, was sie auf Radio Moskau gehört hat. Sie wusste, dass gefährlich ist, was sie da tut.

tipBerlin Waren die Sexszenen schwierig zu drehen? Man erwartet so etwas eher nicht in einem Film über diese Zeit.

Andreas Dresen Ja, eigentlich seltsam, oder? Gerade deswegen war es mir wichtig. Hilde und Hans waren jung und verliebt. Ich habe zum ersten Mal in meinem Berufsleben die Drehbuchautorin Laila Stieler gebeten, diese Sexszenen reinzuschreiben. Denn für die Figur von Hilde ist ja entscheidend, dass sie in der Haft ihr Kind bekommt. Und dann darf man den Moment, in dem sie schwanger wird, auch nicht aussparen. Das in den Film zu kriegen, so natürlich, normal und fröhlich, wie es irgendwie geht, war wichtig. Und deswegen musste ich die Schauspieler überhaupt nicht überzeugen, wir haben dann nur nach einem guten und respektvollen Weg gesucht, das zu drehen.

tipBerlin Hilde ist zu Beginn das alltäglichste Mitglied der Gruppe, neben anderen Menschen, die deutlicher kommunistisch geschult sind oder sogar wichtige Posten bekleiden. Was macht sie trotzdem zur zentralen Figur?

Andreas Dresen Ursprünglich gab es sogar mal die Idee, eine Serie zu machen über Frauen im Widerstand. Es gab so viele tolle, tapfere Frauen! Leider hat sich das Geld nicht gefunden. Ich finde es bei Hilde besonders spannend, wie sich bei einer eher schüchternen und zarten Frau diese enorme innere Kraft entwickelt. Je schwieriger ihre Situation wird, desto stärker übernimmt sie auch Verantwortung. Das kam uns sehr entgegen, weil wir diese Menschen nahbar zeigen wollten. Man muss nicht bewundernd zu ihnen aufblicken. Man ist ihr Gefährte, auf Augenhöhe.

Ein System wie das Nazi-Regime wird ja nicht ausschließlich von Verbrechern getragen, sondern von der großen schweigenden Mehrheit. Von Leuten, die vielleicht gar nicht so einverstanden sind, aber einfach nichts sagen. Von der großen Masse der Opportunisten. Bei der kann man sich als Zuschauer ja vielleicht auch wiederfinden in der eigenen Unsicherheit.

Andreas Dresen

tipBerlin Sie zeigen viele kleine Handlungen, in denen sich Moral oder deren Fehlen zeigt.

Andreas Dresen Ja. Und zwar auch bei den Leuten, die für die Diktatur gearbeitet haben. Die Wärterin Anneliese Kühn, ein Richter, ein Pfarrer – das sind höchst ambivalente Figuren, die einem nicht nur mit der Maske des Schreckens entgegentreten. Ein System wie das Nazi-Regime wird ja nicht ausschließlich von Verbrechern getragen, sondern von der großen schweigenden Mehrheit. Von Leuten, die vielleicht gar nicht so einverstanden sind, aber einfach nichts sagen. Von der großen Masse der Opportunisten. Bei der kann man sich als Zuschauer ja vielleicht auch wiederfinden in der eigenen Unsicherheit.

tipBerlin Gerade die Figur von Anneliese Kühn gewinnt zunehmend stärker an Profil.

Andreas Dresen Sie ist ja zu Anfang jemand, der sich immer hinter dem Regelwerk versteckt und sagt: Das ist Vorschrift. Aber nach und nach wächst ihre Hochachtung gegenüber Hilde, ihrem unbeirrbaren Einsatz für ihr Kind und ihre Überzeugung. Und nach und nach fängt sie an, Mitgefühl zu empfinden, Regeln auch mal zu missachten. Das finde ich spannend.

tipBerlin Warum weiß man heute vergleichsweise wenig von der Roten Kapelle?

Andreas Dresen Der Name Rote Kapelle kam von der Gestapo. Diese Gruppe hat sich selbst ja gar nicht so als Gruppe definiert. Das war eher eine lose Vereinigung von verschiedenen Menschen aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten der Gesellschaft. Es waren über 100, als sie verhaftet wurden. Im Osten wurden sie später ideologisch vereinnahmt als kommunistische Widerstandsorganisation. Im Westen hingegen waren das noch bis 2009 Hochverräter, weil sie ja versucht hatten, militärische Informationen an die Sowjetunion zu übermitteln. Selbst ein Staatsanwalt wie Manfred Roeder, der Hilde zum Tode verurteilt hat, war in den 60er Jahren in Hessen noch Kommunalpolitiker. Hans Coppi, der Sohn von Hilde, der im NS-Gefängnis geboren wurde und überlebte, hat zeitlebens unter dieser durch den Kalten Krieg geprägten falschen Erinnerungskultur gelitten.

tipBerlin Die DDR hat 1971 einen Prestigefilm über die rote Kapelle gemacht. 70mm, tolle Farben, heute würden man sagen: ein Blockbuster.

Andreas Dresen Ja, es gibt inzwischen auch eine beeindruckende neue Abtastung. Ich hab den damals in den 70er Jahren in der Schule gesehen. Er leidet natürlich unter der ideologischen Glocke, unter der er produziert wurde. Und die Geschichte in diesem Film hört genau da auf, wo sie in unserem anfängt. Ich fand eher „Die Verlobte“ von Rücker und Reisch wichtig, wenn es um das Thema Widerstand geht.

tipBerlin tipBerlin Haben Sie „KLK an PTX – Die rote Kapelle“ vor den Dreharbeiten zu „In Liebe, eure Hilde“ noch einmal angeschaut?

Andreas Dresen Natürlich, schon aus Recherchegründen. Meine Vorbehalte von damals bestätigten sich, aber er ist nicht schlecht gemacht. Es ist auch ein sehr langer Film. Drei Stunden. Diese Modeschau, die wir drin haben, gibt es dort auch. Insgesamt haben sie einen unheimlichen Aufwand getrieben. Über eine Million Leute haben den damals gesehen. Wahrscheinlich wurden wie bei mir die Schulklassen rein geschickt.

tipBerlin Sie sind in der DDR aufgewachsen. Ihre Anfänge als Filmemacher fielen in die Wendezeit. Wie blicken Sie heute darauf zurück?

Als mein Studium fast zu Ende war, löste sich allerdings nicht nur das Land in Luft auf, sondern auch die Festanstellung.

Andreas Dresen

Andreas Dresen Ich habe ja als Amateurfilmer angefangen. In der DDR gab es das sogenannte Volkskunstschaffen. Das ging von der Idee aus, dass die Werktätigen sich auch mit Kunst und Kultur auseinandersetzen sollten. In machen Betrieben gab es deswegen auch Amateurfilmstudios. Ich war Schüler, hatte Ideen, aber keine Mittel und so landete ich in einem Betrieb, der hat Schiffshebemaschinen hergestellt. Es gab dort in einem Studio aber Kameras. 16mm. Super8. Ein Paradies für mich! Von da ausgehend habe ich mich dann an der Filmhochschule beworben. Das war ein langwieriger Weg. Insgesamt hat er fünf Jahre gedauert.

Wenn man Spielfilme machen wollte, gab es eigentlich nur die Möglichkeit, beim Fernsehen der DDR oder DEFA Spielfilmstudio zu arbeiten. Ich habe dann bei der DEFA mein Volontariat gemacht und meine erste Regieassistenz bei Günter Reisch. Man wurde damals zum Studium delegiert, brauchte quasi einen Betrieb, von dem man entsandt wurde. Dorthin ging man im Anschluss eigentlich wieder zurück und bekam eine Festanstellung. Als mein Studium fast zu Ende war, löste sich allerdings nicht nur das Land in Luft auf, sondern auch die Festanstellung.

tipBerlin Ein Kurzfilm aus dem Jahr 1990 ist interessant: „So schnell es geht nach Istanbul“. Sie griffen damals schon das Thema Ausländer auf, das es in der DDR eigentlich gar nicht richtig gab.

Andreas Dresen Das ist ja integraler Bestandteil der Erzählung von Jurek Becker, von der ich ausgegangen bin. Sie erzählt eine Art Zweckbeziehung von einem Italiener aus Westberlin, der sich bei einer jungen Frau im Osten eine billige Wohnung sucht, um Geld zu sparen. Da plötzlich die Mauer offen war, musste ich eine Übersetzung für das Jahr 1990 finden. Ich war damals natürlich viel in West-Berlin unterwegs und habe sehr schnell die türkische Community kennengelernt mit tollen Leuten. Aus dem Italiener wurde rasch ein junger Türke. Parallel habe ich haufenweise Filme geschaut, die vorher nicht zugänglich waren. Zum Beispiel Aki Kaurismäkis „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“. Diese Eindrücke habe ich vermischt mit den gesellschaftlichen Erfahrungen, die ich in West-Berlin gemacht habe. Dass sich zwei Menschen gegenseitig ausbeuten wollen, die beide ganz unten sind, fand ich sehr zeitgemäß.

tipBerlin Der Film war noch Teil Ihrer Ausbildung.

Andreas Dresen Es gab an der Filmhochschule verschiedene Übungen und im vierten Studienjahr den sogenannten Hauptprüfungsfilm, der fiel bei mir komplett in diese Umbruchszeit. In der DDR durfte ich „So schnell es geht nach Istanbul“ ja nicht machen, weil die Mauer ein Thema war. Genau um die Zeit der Währungsunion hat es dann geklappt. Den Film habe ich noch mit Hochschulmitteln gedreht, aber zum Teil schon mit einem Team der DEFA. Später hat die Hochschule gesagt: den erkennen wir als Diplomfilm an. Das wollte ich aber nicht, denn damit hätten sie mir die Möglichkeit genommen, in der Ausbildung noch einen Film zu machen. Das wurde dann „Stilles Land“, mein Debütfilm.

tipBerlin Wie haben Sie dieses Jahr bis zur Vereinigung erlebt? Heute heißt es wieder oft, damals musste alles viel zu schnell gehen.

Die schrien damals bereits: „Wir sind ein Volk!“ Wir kamen denen entgegen und die riefen uns zu: „Kooft euch doch ne Insel!“ Wir konnten froh sein, dass wir keins aufs Maul gekriegt haben.

Andreas Dresen

Andreas Dresen Es war fordernd, teilweise überfordernd, sehr atemlos. Ich hatte auch sehr früh im Herbst 1989 das Gefühl: das geht zu schnell. Es gab ja viele Leute in West wie Ost, die das auch bemerkt und gemahnt haben. In Leipzig haben wir im November 89 mit 30 Filmstudenten eine Demo organisiert: Gegen die Wiedervereinigung, für eine Konföderation. Da gabs damals diesen Aufruf von Kulturschaffenden: „Für unser Land.“ Uns entgegen kam diese große Montagsdemo, an der Hunderttausende teilnahmen. Die schrien damals bereits: „Wir sind ein Volk!“ Wir kamen denen entgegen und die riefen uns zu: „Kooft euch doch ne Insel!“ Wir konnten froh sein, dass wir keins aufs Maul gekriegt haben.

Aus heutiger Sicht wird niemand widersprechen, dass es sehr viel besser gewesen wäre, wenn alles ruhiger vonstatten gegangen wäre. Die meisten meiner ostdeutschen Landsleute hatten aber keinen Bock, noch länger zu warten. Die wollten schnell das haben, was man ihnen jahrelang vorenthalten hatte. Die haben nicht darüber nachgedacht, dass innerhalb von zwei Monaten die ganze ostdeutsche Wirtschaft zusammenbricht, wenn es eine Währungsunion gibt. Ein Jahr später haben sie dann die PDS gewählt, weil sie das alles unmöglich fanden. Die meisten Leute haben immer nur den nächsten Schritt gesehen und nie den übernächsten. Wir haben uns angeschlossen, dadurch viel Eigenständigkeit aufgegeben und viel Mist übernommen aus dem West-System, was man bei der Gelegenheit auch mal gut hätte überdenken können. Solche historischen Prozesse sind manchmal wie ein D-Zug, der über dich hinwegrollt. Ich kann natürlich die Politiker verstehen, die damals gesagt haben: Wir müssen die Gelegenheit beim Schopf packen, aber der Osten Deutschlands leidet bis heute unter diesem Gefühl der Fremdbestimmtheit.

tipBerlin Heute scheint das System der Parteiendemokratie durch die neuen Bundesländer in die Krise zu geraten.

Im Osten sind 95 Prozent der Führungspositionen mit Leuten aus den alten Ländern besetzt. Selbst unsere Nazis kommen ja aus dem Westen.

Andreas Dresen

Andreas Dresen Im Westen gab es immer die traditionellen SPD- oder CDU-Wähler, je nach sozialer Zugehörigkeit, später kamen die Grünen dazu. Das alles gab es im Osten nicht. Die SED hat ja keiner in der DDR aus Begeisterung gewählt. Deswegen gibt es bis heute viele Wechselwähler. In den ersten Jahren war es die PDS/Linkspartei, die die Proteststimmen bekam, die jetzt vielleicht auch an die AfD gehen. Das heißt aber nicht, dass aus Ultralinken jetzt Ultrarechte geworden sind. Man darf nicht unterstellen, dass jeder Wähler der AfD ein Nazi ist. Viele Menschen sind verunsichert, haben Angst vor erneuter Veränderung, fühlen sich zum Teil ungerecht behandelt. Im Osten sind 95 Prozent der Führungspositionen mit Leuten aus den alten Ländern besetzt. Selbst unsere Nazis kommen ja aus dem Westen. Die meisten AfD-Funktionäre sind ja aus den alten Ländern.

Nach der Wende war Andreas Dresen desillusioniert

tipBerlin Wie haben Sie selbst die 90er Jahre erlebt?

Andreas Dresen Ein wilde Zeit, in der sich wirklich alles verändert hat. Zuerst mal musste ich begreifen, dass ich diesen schönen Beruf zwar erlernt hatte, aber davon auch irgendwie leben musste. Im Osten gab es ja keine Arbeitslosigkeit, die Filmproduktion war staatlich. Das wurde nun völlig anders. Es ging darum, dieses ganze komplexe System der Förderung zu begreifen, dieses Netzwerk zu durchschauen, in das wir ja nicht reingeboren waren. Ich war insgesamt sehr unsicher, weil sich ja auch der gesamte Alltag veränderte, von der Krankenversicherung bis zur Steuer oder der Miete. Meine erste Wohnung im Osten kostete knapp 30 Mark. Die hatte ich ursprünglich besetzt und später dann legalisiert.

tipBerlin Wann bekamen Sie wieder Boden unter die Füße?

Andreas Dresen Mitte der 90er vielleicht. Ich war nach der Wiedervereinigung so ein bisschen desillusioniert, fast ein wenig unpolitisch. Na gut, dachte ich mir, jetzt haben wir eben Kapitalismus. Eigentlich war die Idee im Herbst 89 ja mal eine andere gewesen. Es hat eine Weile gedauert, ehe ich auch das nun größere Land wieder kritisch befragen konnte. Das führte dann zu Filmen wie „Nachtgestalten“ oder „Die Polizistin“. Ich hab den britischen Sozialrealismus entdeckt: Ken Loach oder Mike Leigh, auch die Dardenne-Brüder aus Belgien. Das war das Kino, das mich ansprach. Mit einer tollen Art von Handwerk die Realität dieser Gesellschaft abzubilden. Ich fand das ein Defizit im deutschen Kino, das war ja die Zeit des großen Komödienbooms. Ich hab dann angefangen, in diese andere Richtung zu arbeiten.

tipBerlin Ken Loach ist bis heute eine Leitfigur im politischen Kino.

Andreas Dresen Ich habe mit Loach hier auf der Bühne im Filmmuseum Potsdam gesessen und durfte ihn interviewen. Er hatte eine Retrospektive. Das war ein toller Abend, da war er auch schon Mitte 70. Ein ganz aufrichtiger, integrer Mensch. An solchen Leuten konnte ich mich festhalten. Aki Kaurismäki hat sich auch immer für die sogenannten kleinen Leute interessiert. In Deutschland kam dann jemand wie Fatih Akin mit „Kurz und schmerzlos“. Mit Andres Veiel bin ich bis heute befreundet und wir reden auch nicht nur über Film.

tipBerlin „Ladybird Ladybird“ auf der Berlinale 1993 war ein wegweisender Film. Heute hört man von Ken Loach allerdings auch Äußerungen zu Israel und Gaza, die man im offiziellen Deutschland als antisemitisch werten würde. Sie haben sich dazu nicht geäußert, soweit ich sehe.

Andreas Dresen Ich bin ein politisch denkender Mensch, aber fühle mich nicht dazu berufen, zu jedem Thema öffentlich die Stimme zu erheben. Durch die Filme kann ich mich sehr differenziert ausdrücken. Und die mache ich auch nicht nur wegen einer aktuellen Botschaft. Ein Film muss auf gewisse Art universal sein, muss auch in 20 Jahren noch eine Nachricht an die Zuschauer haben oder in anderen Regionen der Welt. Da sehe ich meine Möglichkeiten. Wenn hier der Saal voll ist, habe ich zwei Stunden die Aufmerksamkeit von 120 Leuten. Die möchte ich nicht enttäuschen oder mit plakativen Botschaften manipulieren. Aus Wahlkämpfen halte ich mich ohnehin komplett raus.

tipBerlin Das Kino ist ein Medium, mit dem man Empathie üben kann. Merken Sie kulturelle Unterschiede bei den Reaktionen?

Andreas Dresen Die Leute reagieren überall ganz ähnlich auf „Hilde“, das finde ich wunderschön, ob Brisbane, Helsinki oder Schwerin. Ich stehe meist sehr bewegten Menschen gegenüber, die erst wieder ihre Fassung suchen und wo sich dann sehr intensive Gespräche entwickeln. Es ist ein ruhiger Film, langsam erzählt, komplett gegen den Zeitgeist, in dem ja alles immer schneller und lauter wird. Und die Menschen können sich glücklicherweise darauf einlassen. Hilde ist eine Frau, die im Gefängnis ein Baby bekommt, sich durchkämpft, so lange es geht, und an dieser Aufgabe wächst. Da können viele Menschen den Schmerz nachvollziehen. So wild die Zeiten auch sind und so heftig die politischen Diskussionen, gibt es offensichtlich doch so etwas wie einen menschlichen Kern bei allem Getöse, von dem sich viele berühren lassen.

tipBerlin Nun streitet Deutschland über die „Brandmauer“ gegen Rechts. Wie sehen Sie das?

Andreas Dresen Es ist der Kern von Demokratie, dass man die andere Meinung anhört und aushält. Dass man etwas miteinander ausficht, verschiedene Sichten auf Gesellschaft und Politik. Wozu ist denn ein Parlament da? Da darf hart gestritten werden, am Ende entscheidet die Mehrheit. Bisher wählen zum Glück selbst in Thüringen 70 Prozent nicht die AfD. Ich habe mich bei der Berlinale geärgert, dass man die fünf Hanseln von der AfD ausgeladen hat. Wir machen uns lächerlich, wenn wir nicht mal das ertragen. Damit hat man der AfD wieder eine Riesenplattform gegeben, damit sie sich als Opfer generieren können. Ich lade gern jeden AfD-Abgeordneten oder Wähler dieser Partei in unseren Film ein und rede mit ihnen darüber. Wenn wir nicht schaffen, auf kulturvolle Art miteinander zu streiten, dann können wir es eigentlich vergessen.

tipBerlin Mit Ihrem Film „Gundermann“ waren Sie eigentlich ein Vorbote der deutschdeutschen Debatte, die 2023 mit dem Buch von Dirk Oschmann wieder an Intensität gewann. Verfolgen Sie das?

Von vielen Ostdeutschen wird indirekt oft verlangt, sich quasi für ihr früheres Leben zu entschuldigen. Darauf haben zu Recht die wenigsten Bock, denn mit wem soll man das ausmachen, wenn nicht mit selbst?

Andreas Dresen

Andreas Dresen Das Buch von Oschmann habe ich gelesen. Mir ist es manchmal zu polemisch. Es befördert aber einen Diskurs, und dafür finde ich es wichtig. „Das Leben der Anderen“ war ein guter Film, aber was das DDR-Bild betrifft, lag er komplett daneben.

Bei „Gundermann“ war uns deswegen wichtig, die Widersprüchlichkeit von Systemverstrickung auf differenziertere Art zu zeigen. Diese Schematik zu durchbrechen, die da oft existiert. Gundermann schien dafür ein geeigneter Charakter: Jemand, der auf dem Braunkohlebagger sitzt und über Umweltschutz singt. Jemand, der unbedingt in die SED will und dort wegen Systemkritik rausgeschmissen wird. Jemand, der bei der Stasi mitmacht und am Ende selbst von ihr bespitzelt wird. Ein Mensch voller Widersprüche. Der am Schluss dasteht und sagt: Ich werde hier niemanden um Entschuldigung bitten, aber mir selbst kann ich das nicht verzeihen. Von vielen Ostdeutschen wird indirekt oft verlangt, sich quasi für ihr früheres Leben zu entschuldigen. Darauf haben zu Recht die wenigsten Bock, denn mit wem soll man das ausmachen, wenn nicht mit sich selbst? Nicht gegenüber irgendeiner Allgemeinheit.

Gundermann hat das getan bei den Leuten, die es direkt betrifft, ist zu ihnen nach Hause gegangen und hat versucht, sich zu erklären. Er hat auf seine Art Verantwortung übernommen. Beim Konzert hat er gesagt: Wenn jemand faule Eier schmeißen will, versucht bitte, mich zu treffen und nicht den Gitarristen. Bei der Stoffentwicklung wurde von uns oft gefordert, dass die Figur erkennen muss, was sie falsch gemacht hat, sich entschuldigen. Das war ein andauernder Streit. Wir haben dreimal die Produzenten gewechselt.

tipBerlin Die Produzenten wollten, dass Sie Gundermanns Haltung verändern?

Andreas Dresen Ein Reuedrama. Es sollte ein Reuedrama werden, und das wollten Laila Stieler und ich absolut nicht bedienen. Wir sollten immer über das Stöckchen von Leuten springen, die gar nicht in der DDR gelebt haben. Das hat Kraft gekostet. Wir haben am Ende fast zwölf Jahre gebraucht. Ich hab dann überhaupt nicht mehr daran geglaubt, dass der Film erfolgreich werden könnte. Das macht ja was mit einem. „Gundermann“ kam dann zu einem Moment heraus, wo es ein Bedürfnis nach einem anderen Diskurs über den Osten gab. Darauf hat man keinen Einfluss. Das war einfach Glück.

tipBerlin Was ist für Sie Erfolg?

Andreas Dresen Als „In Liebe, Eure Hilde“ bei der Berlinale lief. Das war unglaublich, das war wahrscheinlich die schönste Vorführung, die ich je erlebt habe. Man hat die Leute atmen und schluchzen hören. Das hat sich am Schluss, als Hans Coppi mit erhobener Faust auf die Bühne kam, in einer Akklamation entladen. Da habe ich geheult. Denn was muss dieser Mann empfunden haben? Fast 2.000 Menschen geben ihm Standing Ovations! Eine späte Gerechtigkeit für das, was seine Eltern erlitten haben. Plötzlich konnte er das Gefühl haben, das wird gewertschätzt. Dafür mache ich Filme. Der Rest ist Eitelkeit.


Zur Person

Andreas Dresen, geboren 1963 in Gera, wurde nach der Wende zu einem der wichtigsten Filmemacher Deutschlands. Er begann seine Laufbahn noch bei der DEFA und hatte 1992 mit „Stilles Land“ einen ersten Erfolg. Es folgten unter anderem „Halbe Treppe“ (2002), „Sommer vorm Balkon“ (2005, Drehbuch Wolfgang Kohlhaase), „Gundermann“ (2018) und „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ (2022). Dresen lebt in Potsdam.


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