Filmkritik

„Annette“ von Leos Carax: Düstere Pop-Oper mit Adam Driver

Leos Carax ist der große Exzentriker des französischen Kinos. Wer erinnert sich noch an „Die Liebenden vom Pont-Neuf“? Seit diesem modernen Klassiker kommt von Carax nur alle paar seltenen Jahre etwas Neues. Auch für „Annette“ hat er sich Zeit gelassen. Das Musical um einen unheimlichen Comedian ist zwar einigermaßen merkwürdig, gehört aber zu den Höhepunkten des Kinojahres. Eine Filmkritik von Lars Penning.

Adam Driver in „Annette“ von Leos Carax. BIld: Amazon

Leos Carax‘ „Annette“ zeigt, wie wichtig Kunst im Film ist

Der französische Regisseur Leos Carax provoziert mit seinen Filmen regelmäßig sehr unterschiedliche Reaktionen. Einige Leute sehen in ihm einen visionären Phantasten des aktuellen Kinos, andere wiederum halten ihn für einen selbstverliebten Blender, einen Filmemacher, der mit viel visuellem Aufwand inhaltsleere Banalitäten erzählt. Natürlich hängt die Sichtweise auch davon ab, was genau man von Kino generell erwartet. Mir persönlich ist etwa die Idee, dass das Kino das Leben möglichst getreu zu spiegeln habe, einigermaßen fremd. Dass jemand ein vermeintlich „wichtiges“ Thema in den Mittelpunkt eines Films stellt, lockt mich überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Ich erwarte, dass das Kino mir deutlich zeigt, dass ich gerade etwas Künstliches (meinetwegen auch: Kunst) anschaue.

Generell sehe ich Film als die Kunst des elliptischen Erzählens, des Verdichtens. Zeit, Orte und Gedanken können im Kino problemlos springen, oder besser noch: fliegen. Einer meiner liebsten Kinomomente ist stets eine Schrifttafel mit dem willkürlichen Satz „Drei Jahre später“, die es einfach der Imagination überlässt, diese Zeit auszufüllen. Keine andere Kunst kann das so gut wie das Kino. Im Grunde können mir Filme gar nicht künstlich genug sein.

„Annette“: Gesungene Dialoge zu Art-Rock-Melodien

Sollen die Darsteller:innen ruhig alle singen und tanzen, sollen die Farben gern so extrem leuchten wie möglich oder die Schatten noch noir-schwärzer als Schwarz sein. Und ich will, dass Autor:innen und Regisseur:innen ihren Filmen deutlich einen eigenen Stempel aufdrücken. Und wer bitte kann schon behaupten, dass diese Art von Kino uns nichts über unser Dasein und unser Verhältnis zur Welt und zur Kunst erzählt? Wäre es so, würde sich das vermutlich niemand ansehen.

Nach dieser langen Vorrede, die selbstredend ein Stück weit inspiriert ist von Leos Carax‘ neuem Film „Annette“, kommen wir nun endlich auch zu selbigem. Natürlich ist „Annette“ komplett künstlich: eine düstere Pop-Oper mit überwiegend gesungenen Dialogen, geschrieben von Russell und Ron Mael, die mit ihrer Art-Rock-Band Sparks seit den 1970er-Jahren Erfolge feiern und momentan als Mittsiebziger gerade das x-te Comeback ansteuern.

"Annette" von Leos Carax. In den Hauptrollen: Adam Driver und Marion Cotillard. Bild: Alamode
„Annette“ von Leos Carax. In den Hauptrollen: Adam Driver und Marion Cotillard. Bild: Alamode

Adam Driver als fieser Stand-Up-Comedian Henry McHenry und Marion Cotillard als Opernsängerin Ann Defrasnoux spielen die Hauptrollen in diesem anspielungsreichen Musical, in dem es um eine aus dem Ruder laufende Liebesgeschichte, um Mord und um eine Rache geht, bei der Baby Annette, die singende Wundertochter des Paares, eine instrumentale Rolle spielt. Nebenbei erzählt der Film mit Operndramaturgie von Publikumserwartungen, Künstlerexistenzen, Massenmedien, toxischer Männlichkeit, (imaginierten) #metoo-Erfahrungen, aufziehenden Stürmen und Bezügen zum Leben und zur öffentlichen Wahrnehmung von Leos Carax und seiner Tochter Nastya, der dieser Film gewidmet ist.

Carax und seine Tochter stehen auch am Anfang von „Annette“, in einer Sequenz, die gemeinsam mit einer ähnlichen Coda im Abspann den Film als Klammer umschließt: Die beiden sitzen im Kontrollraum eines Studios, auf der anderen Seite der Glasscheibe stimmen die Musiker der Sparks ihre Instrumente. Auf Los geht’s los, aber erst einmal damit, dass der Anfang und mit ihm die Freude am Erzählen thematisiert werden. „So may we start?“ singen die Sparks, während sich ihre Musiknummer mit der gesamten Besetzung – ganz Musical – auf die Straße ausweitet und die Protagonist:innen schließlich in gegensätzliche Richtungen ihrer Story entlässt.

Marion Cotillard in „Annette“ von Leos Carax. Bild: Alamode

Der Macho Henry lebt als Comedian von der Konfrontation: Er bereitet sich auf seine Auftritte vor wie ein Boxer auf seinen Kampf, geht auch in Boxershorts und Bademantel auf die Bühne. Seinem Publikum schleudert er Provokationen entgegen, verkündet dabei Geschmacklosigkeiten wie Wahrheiten. Oft genug auch geschmacklose Wahrheiten. Wenn von seinen Erfolgen die Rede ist, heißt es, er habe das Publikum „gekillt“. Die fragile Ann hingegen stirbt jeden Abend auf der Bühne den tragischen Operntod. Und damit das auch jede:r begreift, singt sie: „I’m dying.“ Die Zeichen für die Beziehung der beiden sind somit gesetzt, das kann man kaum falsch verstehen.

Wenn der von Selbsthass zerfressene Henry, für den die Liebe die Kreativität nicht befeuert, sondern abtötet, und mit dessen Karriere es Stück für Stück bergab geht, sich Ann annähert, hat das meist etwas Übergriffiges. Es gipfelt schließlich in einem gewalttätigen Tanz/Gerangel auf dem Deck einer Yacht bei stürmischer See, bei dem Ann über Bord geht. Nur um umgehend als Geist wiederzukehren, der eine Rache verkündet, die durch die Tochter Annette – über weite Strecken des Films eine ihre Künstlichkeit ausstellende Puppe, bei der andere Leute an den unsichtbaren Fäden ziehen – vollzogen werden soll.

Denn Annette beginnt als Widerhall von Ann bei Mond- und Sternenschein (natürlich auch bei künstlichem) zu singen, Henry tourt als ihr Impresario mit ihr nun um die Welt. Doch bei ihrem größten und letzten Auftritt singt Annette nicht, sondern spricht in der Pause eines Hyperbowl-Spiels vor einem Millionen-TV-Publikum ihre ersten Worte, die Henry, der immer mehr zum Alter Ego des Regisseurs wird, schwer in Bedrängnis bringen.

Liebe und Tod, die Kunst und er selbst: Davon handelten die Filmen von Leos Carax schon immer. Und das dürfen sie meinetwegen auch gern weiterhin, wenn das alles mit so viel Fantasie erzählt wird wie in „Annette“.

F/B/D 2021; 141 Min.; R: Leos Carax; D: Adam Driver, Marion Cotillard, Simon Helberg; Kinostart: 16.12.


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