Nach einem Buch von Annie Ernaux hat Audrey Diwan den Film „Das Ereignis“ gemacht: Im Frankreich der 1960er-Jahre wird eine Studentin schwanger – und muss mehr oder weniger allein herausfinden, wie sie in einer konservativen Welt eine Abtreibung vornehmen lassen kann. 2021 gab es in Venedig dafür einen Goldenen Löwen. Für den tipBerlin hat Frank Arnold mit der Regisseurin gesprochen.
„Das Ereignis“: Künstlerischer Umgang mit dem Thema Abtreibung
tipBerlin Madame Diwan, der Roman „Das Ereignis“ von Annie Ernaux wurde im Jahr 2000 veröffentlicht. Haben Sie ihn schon damals gelesen und lange gebraucht, bis Sie daraus einen Film machen konnten?
Audrey Diwan Nein, ich habe ihn erst kürzlich gelesen, nachdem ich selber eine Abtreibung hatte und mich mit künstlerischen Verarbeitungen dieser Situation auseinandersetzen wollte. Ich kannte das Buch nicht, eine Freundin hat mich darauf aufmerksam gemacht. Bei der Lektüre habe ich mich in die Rolle der Protagonistin hineinversetzt. Zugleich begriff ich aber auch, dass es nicht nur um sie ging, sondern genauso um viele junge Frauen auf der ganzen Welt, wenn sie diese Erfahrung machen. Ich war ziemlich schockiert darüber, wie wenig ich von der Wirklichkeit einer Abtreibung im Jahr 1963 wusste.
„Ein Film, der vom Jetzt erzählt“: Audrey Diwan über „Das Ereignis“
tipBerlin Wie schwierig war der Weg vom Buch zum Film?
Audrey Diwan Das Buch beinhaltet zweierlei Dinge, zum einen die Erfahrung der Autorin in den 1960er-Jahren, basierend auf ihrem Tagebuch, zum anderen die Reflexion der Autorin in den 1990er-Jahren, als sie diesen Roman schrieb. Den Aspekt der Reflexion über das Vergangene habe ich allerdings weggelassen, denn das hätte den Film in der Vergangenheit verankert, was ich nicht wollte. Ich wollte das genaue Gegenteil, einen Film, der vom Jetzt erzählt. Das andere war, dass ich nicht nur von Abtreibung erzählen wollte, sondern auch von sexuellem Vergnügen, weiblichem Vergnügen. Darüber gab es kaum etwas in dem Roman. Annie Ernaux schreibt sehr offen darüber, aber eben nicht in diesem Buch.
tipBerlin Sie haben den Film im klassischen Filmformat von 1:1,37 gedreht, was in den letzten Jahren Filmemacher häufiger gemacht haben, etwa Pawel Pawlikowski bei „Cold War“ und Andrea Arnold bei „American Honey“. Ging es Ihnen dabei nur darum, zu zeigen, dass von allen Seiten Druck auf die Protagonistin ausgeübt wird oder gab es noch andere Überlegungen?
Audrey Diwan Ich finde, das ist ein Seitenverhältnis, das sehr gut für diese Erzählung passt. Sobald Anne von ihrer Schwangerschaft weiß, fürchtet sie alle anderen Menschen – dass diese ihr Geheimnis entdecken könnten. Diese Enge des Bildes führt dazu, dass man nicht sieht, wie Leute sich ihr nähern – die Erfahrung der Protagonistin steht im Zentrum. Mit meinem Kameramann Laurent Tangy habe ich auch mit diesem Bildformat gespielt: Zu Beginn steht Anne im Zentrum des Bildes, dann folgt die Kamera, hinter ihr positioniert, ihr überall hin – eine Reise in das Unbekannte für sie.
tipBerlin Die Hauptdarstellerin des Films, Anamaria Vartolomei, ist in fast jeder Szene im Bild. Das ist eine bemerkenswerte Leistung, die sie dabei unter Ihrer Regie zeigt. Haben Sie sie bei einem klassischen Casting gefunden?
Audrey Diwan Ich arbeite mit klassischen Castings, aber die sind bei mir ziemlich aufwendig. In der kurzen Zeit, die ich dafür hatte, verstärkte sich mein Eindruck, sie erinnerte mich an die Figur. Ihr Spiel hatte etwas Minimalistisches, sie hat nicht versucht, mich zu verführen, indem sie besonders emotional spielte – das wäre zu viel gewesen, da die Kamera ja immer ziemlich nah dran ist an ihrem Gesicht. Zu guter Letzt wollte ich in ihr auch einen intellektuellen Partner finden, jemanden, der mit Worten umgehen kann, schließlich spielt sie eine junge Frau, die Schriftstellerin werden will.
tipBerlin Minimalistisch trifft auf den Film als Ganzes zu. Ist das etwas, das Sie in verschiedenen Stadien des Filmemachens erreicht haben, indem Sie etwas verknappten, also auch noch im Schneideraum – oder aber war schon im Drehbuch von vornherein so angelegt?
Audrey Diwan Ich schätze die Einfachheit, das war von Anfang an mein Ziel. Und das habe ich in jeder Phase des Films umgesetzt, sei es beim Schreiben oder beim Drehen. Ich wusste genau, was ich wollte – alles auf das Essentielle zu reduzieren.
tipBerlin Wie haben jüngere Zuschauer:innen auf den Film reagiert? Wussten die überhaupt, dass es Zeiten gab, in denen die Abtreibung in Frankreich verboten war, oder war das für sie Neuland?
Audrey Diwan Genau das haben sie mir erzählt. Sie waren überrascht davon, was in Frankreich – vor noch gar nicht so langer Zeit – Realität war.
„Ich mag hartnäckige Figuren, weil ich es selber auch bin“
tipBerlin „Das Ereignis“ wurde beim Filmfestival Venedig im vergangenen Herbst mit dem Hauptpreis, dem Goldenen Löwen, ausgezeichnet. Hat das Konsequenzen gehabt? Bekommen Sie jetzt viele Angebote?
Audrey Diwan Mit dem Goldenen Löwen habe ich vor allem Freiheit für mein nächstes Projekt gewonnen. Das habe ich bereits im Kopf, aber es steht noch sehr am Anfang.
tipBerlin Ihr Regiedebüt „Mais vous êtes fou“ wurde hierzulande nicht gezeigt, aber einige Filme, die Sie als Autorin für andere Regisseure geschrieben haben, etwa Cédric Jiminez‘ „Der Unbestechliche – Mörderisches Marseille“ mit Jean Dujardin und „Die Macht des Bösen“. Die gehören alle ins Genre des Thrillers.
Audrey Diwan Wenn ich für andere schreibe, versuchte ich, ihren Vorstellungen zu folgen. Die einzige Gemeinsamkeit ist die, dass ich mich in eine andere Welt, ein anderes Universum hinein begebe. Von der Arbeit mit Cédric lernte ich etwas über das Funktionieren eines Thrillers, über den erzählerischen Bogen.
tipBerlin Ich würde hinzufügen, dass Sie Figuren mögen, die hartnäckig sind.
Audrey Diwan Vielleicht, weil ich das selber auch bin (lacht).
tipBerlin Werden Sie weiterhin auch für andere als Autorin arbeiten?
Audrey Diwan Oh ja. Das mache ich gerade. Sie waren so freundlich, auf mich zu warten, bis ich meinen eigenen Film fertiggestellt hatte. Das weiß ich zu schätzen. Derzeit schreibe ich sowohl am nächsten Film von Claude Lelouch als auch an dem von Valérie Donzelli.
tipBerlin Sie sitzen gerade vor einem Plakat des Films „César et Rosalie“. Hat der eine spezielle Bedeutung für Sie?
Audrey Diwan Ja, weil ich finde, dass der Film von Claude Sautet eine schöne Balance zwischen dem Intimen und dem Politischen findet. Das ist etwas, was mir auch bei meinen eigenen Filmen wichtig ist.
Was läuft sonst? Alle Filmstarts der Woche vom 31. März 2022 im tipBerlin-Überblick. US-Komödien als Vorbild – und die Coen-Brüder als Idole: Mit Alireza Golafshan haben wir über seine Komödie „JGA. Jasmin. Gina. Anna.“ gesprochen. Immer aktuell: Unsere Texte zu Kino und Streaming.