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„Auf trockenen Gräsern“: Hohe Filmkunst von Nuri Bilge Ceylan

„Auf trockenen Gräsern“, so heißt der neue Film von Nuri Bilge Ceylan. Der türkische Regisseur erzählt von einem Kunstlehrer, der gern in Istanbul arbeiten würde, aber zunächst in Anatolien eingesetzt wird – und zeichnet anhand der Beziehungen, die dieser eingeht, ein äußerst differenziertes Bild der Türkei. Hohe Filmkunst, findet tipBerlin-Filmkritiker Bert Rebhandl.

„Auf trockenen Gräsern“. Foto: eksystent Filmverleih/Nuri Bilge Ceylan

Kunstlehrer in Anatolien: „Auf trockenen Gräsern“ führt in die Provinz

Wer in der Türkei in den Staatsdienst geht, zum Beispiel als Lehrer, kann sich nicht gleich aussuchen, wo der Dienstort ist. So verschlägt es viele junge Leute zuerst einmal in die Provinz, obwohl sie doch am liebsten in Istanbul leben und arbeiten würden.

Samet ist so einer. Zu Beginn des Films „Auf trockenen Gräsern“ ist er zu sehen, wie er in einem Dorf ankommt, mitten im Winter, die Bedingungen sind hart. Er teilt sich ein Quartier mit Kenan, einem jungen Kollegen. Samet unterrichtet Kunst. Eine Schülerin namens Sevim flirtet unübersehbar mit ihm. Der Umgang ist locker, freundschaftlich, vielleicht ein bisschen unangemessen, nichts Schlimmes, aber jedenfalls nicht ganz nach Schema in einer Autoritätsbeziehung.

Samet und Kenan schließen auch Freundschaft mit Nuray, einer Kollegin, die bei einem Terroranschlag ein Bein verloren hat. Beide Männer machen ihr den Hof. Kenan ist ernsthaft verliebt, Samet hingegen nimmt die Sache nicht wirklich ernst, nützt dann aber umso konsequenter eine Möglichkeit, Nuray näherzukommen.

Nuri Bilge Ceylan zeichnet mit „Auf trockenen Gräsern“ erneut ein differenziertes Bild der Türkei

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Für den großen türkischen Regisseur Nuri Bilge Ceylan („Es war einmal in Anatolien“, „Der wilde Birnbaum“) ist die Geschichte von Samet, Kenan, Nuray und Sevim eine weitere Gelegenheit, ein äußerst differenziertes Bild der Gesellschaft der heutigen Türkei zu zeichnen. Ein Land zwischen Europa und Asien, das mit einem Bein schon mitten in der rasant beschleunigten Moderne steht, mit dem anderen aber noch stark in alten Traditionen verwurzelt ist. Der Gegensatz Istanbul-Anatolien ist ein sichtbarer Aspekt dieser Spannung, aber Ceylan nimmt überall Details davon wahr: Vielleicht ist die Unentschlossenheit Samets, sein unklarer moralischer Charakter, ja Ausdruck einer Ambivalenz, einer Verlorenheit zwischen diesen Polen.

Foto: eksystent Filmverleih/Nuri Bilge Ceylan

Ceylan ist ein Filmemacher, der im derzeitigen Weltkino zu den großen Stars gehört, weil er eine sehr spezielle Methode zunehmend weiter perfektioniert. Er bleibt mit der Kamera in der Regel ein wenig weiter weg, in der Halbdistanz oder sogar richtig weit von den Figuren entfernt. Und dann lässt er lange Szenen ablaufen, die wirken, als wären sie vollkommen alltäglich, zum Teil sogar so, als würde gar nicht viel Wichtiges passieren. Dabei ist doch alles genauestens geschrieben und choreografiert, und man kann aus vielen Kleinigkeiten Schlüsse ziehen auf das Ganze des Geschehens, auf das Innenleben der Menschen in seinen Filmen – die sich oft selbst nicht verstehen. Auch „Auf trockenen Gräsern“ ist ein langer Film, der häufig vor allem aus Gesprächen besteht – zum Beispiel zwischen Samet und der Schuldirektion, nachdem es zu einer Beschwerde über ihn gekommen ist.

Als Lehrer ist Samet alles andere als ein Idealist, er sieht sich eigentlich nur auf einer Übergangsstation. Sevim steht für die Zukunft der Türkei, ein junges Mädchen, das mit seinem Lolita-Appeal spielt, und keineswegs nur unbewusst. Wie diese beiden ungleichen Figuren aufeinander treffen, das hat etwas latent Tragisches, das Nuri Bilge Ceylan dann in einen vieldeutigen Schluss aufhebt. „Auf trockenen Gräsern“ gibt viel zu schauen, zu hören, zu denken. Wie man es von hoher Filmkunst erwarten darf.

  • Kuru Otlar Üstüne (Auf trockenen Gräsern) Türkei 2023; 197 Min.; R: Nuri Bilge Ceylan; D: Deniz Celiloğlu, Merve Dizdar, Musab Ekici, Ece Bağcı; Kinostart: 16.5

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