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„Berlin Visionen“: Wie Filme das Bild der Stadt prägen

Wie sich Berlin verändert und welche Vorstellungen von der Stadt existieren, zeigen nicht zuletzt Filme. Das kürzlich im Martin Schmitz Verlag veröffentlichte Buch „Berlin Visionen – Filmische Stadtbilder seit 1980“ ist eine sich über vier Jahrzehnte erstreckende Auseinandersetzung mit den Wechselwirkungen von Urbanität und Film. Ob Tatort, Partystadt oder subkulturelles Refugium, Filme bildeten und bilden immerzu das Wesen Berlins ab. Parallel zum Buch findet im Lichtblick-Kino eine Filmreihe mit ausgewählten Spiel- und Dokumentarfilmen statt, der Fokus richtet sich auf Subkulturen und Blicke von Nicht-Berlinern auf die Stadt.

Das Buch "Berlin Visionen" untersucht die Filme zur Stadt. Besonders bekannt: Leander Haußmanns "Herr Lehmann" (2003). Foto: Imago/Mary Evans/AF Archive/Boje Buck Produktion
Das Buch „Berlin Visionen“ untersucht die Filme zur Stadt. Besonders bekannt: Leander Haußmanns „Herr Lehmann“ (2003). Foto: Imago/Mary Evans/AF Archive/Boje Buck Produktion

Welchen Anteil an der Berlin-Faszination haben Filmbilder?

„Berlin gehört zu den schillerndsten Städten der Welt“, schreiben die Herausgeber der „Berlin Visionen“, der Filmwissenschaftler Marcus Stigglegger und der Filmkritiker Stefan Jung, und fragen sich, welchen Anteil an dieser Faszination Filmbilder haben. Tatsächlich ist die Aura einer Metropole stark von der jeweiligen medialen Produktion geprägt. Unsere Vorstellungen von New York, London oder Paris haben nur zum Teil etwas mit den eigenen Eindrücken zu tun, viel von dem, wie wir eine Stadt begreifen, nimmt Bezug auf den Konsum von Filmen und Serien. Auch Berlin hat ein Image – oder besser, eine ganze Bandbreite an Images: Subkulturparadies, Partyhauptstadt, Polithochburg, Tatort und so weiter. Diese unterschiedlichen Perspektiven und ihre filmische Verwertung arbeiten die Autoren und Autorinnen der Beiträge in dem 400 Seiten starken Sammelband heraus.

Die visionäre Reise in das Herz von Berlin beginnt 1980, eigentlich schon einige Jahre zuvor. Die Mythen der Mauerstadt sind aus Filmen wohlbekannt. Dokus, Videoclips, avantgardistischen Montagen und Spielfilme, durch die sich das Panoptikum der West-Berliner-Prominenz bewegt. Claudia Skoda, David Bowie, Einstürzende Neubauten, Nick Cave, aber auch „ganz normale Menschen“ und ihre Geschichten und Alltagsdramen. Auch die Kneipen, Straßenszenen, der Bahnhof Zoo, die Realität der Mauerstadt, all das existiert in einer gefilmten Erinnerung.

„Berlin Visionen“ beginnt mit Dreck, Drogen, Dunkelheit

Selbst wer dabei war, erinnert sich vielleicht eher an Szenen aus „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ als an die echte Gropiusstadt oder die realen Junkies in der Kurfürstenstraße. Wirklichkeit und Fiktion vermengen sich. „Dreck, Drogen, Dunkelheit. Ein urbaner Moloch“, heißt es im Vorwort, doch auch das bleibt ein Mythos der Frontstadt, der durch die Filmproduktion verstärkt wurde. Die Bilder entstehen im Kopf. Visionen von Berlin, und die Filmbilder füttern das visuelle Gedächtnis.

Den Filmemachern ergeht es nicht anders, auch sie haben Bilder im Kopf, die sie reproduzieren, die eigenen Erfahrungen fließen neben politischen und kulturellen Schwingungen in die Filme der jeweiligen Epochen hinein. Man könnte sie lapidar „Zeitgeist“ nennen, aber es geht um mehr. Das wird bei der zuweilen anspruchsvollen Lektüre der diversen Essays deutlich. Im Zentrum der filmästhetischen Betrachtungen stehen die verschiedenen Berlin-Bilder. Die Texte spüren den spielenden Figuren als auch dem urbanen Kosmos nach, durch den sie sich bewegen, vor allem aber der Frage, wie es diese Bilder schaffen, etwas über das Wesen der Stadt zu behaupten.

Auch wenn es sich zumeist um fiktionale Stoffe handelt, geht es in dieser Gesamtbetrachtung des Berliner Filmkanons um die symbolische Perspektive, die den städtischen Zusammenhang nachvollziehbar macht. „Erst die Imagination der Großstadt schafft das Bild von Berlin, die Sehnsucht- und Hassbilder“, heißt es dazu. Erst die Filme also, machen die Stadt zu dem was sie ist.

Von 1980 ausgehend, streifen die Beiträge berühmte, weniger berühmte und obskure Beispiele aus der Filmgeschichte. Konrad Wolfs letzter Spielfilm „Solo Sunny“ (1980) dient als gelungenes Beispiel einer detailliert ausformulierten Millieustudie in der (Ost-)Berlin eher als Wohnstadt denn als Großstadt funktioniert. Carl Schenkel, der einige Jahre später den legendären Fahrstuhlthriller „Abwärts“ drehte, erzählte 1981 in seinem Drama „Kalt wie Eis“ von Jugendkriminalität in West-Berlin. Ein raues Abstiegsszenario samt Besäufnissen in Kreuzberger Kneipen. Mit dabei: Rolf Eden, Otto Sander, Blixa Bargeld und Hanns Zischler. Mehr West-Berlin geht nicht.

Nach der Wende ändert sich die Perspektive. Die Ost-West-Reibung entfällt und auch die kaputte Stimmung der Mauerjahre lichtet sich. Im Kapitel „Transferräume“ werden unter anderem Filmhits wie Tom Tykwers „Lola rennt“ (1998) und Leander Haußmanns „Herr Lehmann“ (2003) untersucht, aber auch weniger berühmte Berlin-Filme wie Thomas Arslans „Der schöne Tag“ (2001). Frei von historischen Bezügen ist die Ära nicht, die Aufarbeitung von Ostalgie und Westalgie schreitet voran, und das Kino liefert neue Bilder und Berlin wirkt als Stadt des Wandels und der Bewegung.

Die Stadt als Weltzentrale der Nachtschwärmer

Dazu passen auch die Beiträge, die sich der Stadt als Weltzentrale der Nachtschwärmer annehmen. Clubs, Techno, Hedonismus. Der Aufbruch begann schon 1990 und machte Berlin international als Partylocation bekannt. Auch im Film verbreitete sich der neue Sound. Etwa in Hannes Stöhrs DJ-Drama „Berlin Calling“ (2008), aber auch in Dokumentarfilmen, die in die subkulturellen Universen abtauchen und Phänomene wie die Retro-Exploitation oder Punk und Post-Punk beleuchteten.

„Berlin Visionen“ ist ein komplexes Nachschlagewerk mit großer theoretischer Wucht und vielen kurzweiligen Betrachtungen. Eine Berliner Filmgeschichte der vergangenen 40 Jahre, die Mainstream und Underground gleichermaßen wertschätzt, die viele vergessene Filme (neu) entdecken lässt und so manchen Klassiker in ein frisches Licht stellt. Letztlich sind die Berlin-Filme, auch das macht das Buch klar, nicht nur mediale Bausteine eines schwer fassbaren Wesens namens Berlin, es sind auch Zeitreisen. Filmexpeditionen in die Geschichte, Atmosphäre und Befindlichkeit dieser Stadt, und für viele werden sie wohl auch zu Reisen in die eigene Biografie.

Besonders hübsch ist übrigens zum Ende hin Jochen Werners Beitrag über die „Seltsame Abwesenheit von Berlin in Til Schweigers Filmen“. Dass Schweiger Berlin nicht kapiert hat, ahnte man schon vorher, hier kann man es noch einmal gut begründet nachlesen.


Berlin Visionen – Filmische Stadtbilder seit 1980 von Stefan Jung / Marcus Stiglegger (Hrsg.), Martin Schmitz Verlag, 372 Seiten, 24 Euro

Von Januar bis März 2022 findet im Lichtblick-Kino eine begleitende Filmreihe statt, die am 29.1.2022, 19 Uhr, mit einer Buchpräsentation durch Stefan Jung und einer anschließenden Vorführung von „Wrestler“ (in Anwesenheit des Regisseurs Wieland Speck) eröffnet wird. Mehr Infos dazu lest ihr hier.


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