Berlinale 2021

„Blutsauger“ von Julian Radlmaier: Ein bisschen Marx, viel Klasse

Ein Sommer an der Ostsee im Jahr 1928, das ist das Setting von „Blutsauger“, der die Metaphern von Karl Marx ernst nimmt. Regisseur Julian Radlmaier beweist nicht nur, wie weit man Ironie entwickeln kann, sondern auch, wie gut sich Theorie in Filmpraxis übersetzen lässt. Unsere Kritik zum Film mit Lilith Stangenberg, Corinna Harfouch und Alexandre Koberidze.

Daniel Hoesl, Martin Hansen, Corinna Harfouch, Alexandre Koberidze, Alexander Herbst, Lilith Stangenberg in „Blutsauger“. Foto: faktura film

Karl Marx schrieb manchmal ein lustiges, heute altmodisch klingendes Deutsch. Dass das Kapital für seine Vermehrung die Tätigkeit der werktätigen Klassen „erheischt“, klingt heute fast rührend. Denn das Heischen ist inzwischen ganz schön druckvoll geworden, und ausgepresst wird nicht nur Arbeitskraft, sondern auch noch alles mögliche Andere, das sich nie anheischig gemacht hat, zur Profitakkumulation dienen zu wollen. Auf Gedanken dieser Art kann einen der Film „Blutsauger“ von Julian Radlmaier bringen. Der Titel kommt von einer Metapher bei Marx: das Verhältnis der besitzenden zur arbeitenden Klasse hat etwas von Blutsaugerei.

Doch wer ist in der Gesellschaft konkret der Vampir? Oder gar die Vampirin? Julian Radlmaier arbeitet schon seit einiger Zeit an einem sehr eigenen Filmtypus, der auf eine latent komische Weise Theorie in Geschichten überführt – die Kritik zu seinem Film „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ findet ihr hier. In diesem Fall treffen eine protestantische Fabrikantentochter, Octavia Flambow-Jansen (Lilith Stangenberg, mit der wir hier über ihre Pläne 2021 sprachen), und ein russischer Emigrant, Baron Kobersky, aufeinander.

Welche Perspektive hat der arbeitende Mensch bei den reichen Leuten?

Es ist das Jahr 1928, und der Baron ist vielleicht gar keiner. Jedenfalls aber wurde er aus dem Revolutionsfilm „Oktober“ von Eisenstein hinausgeschnitten, und zwar auf Befehl Stalins. „Blutsauger“ erzählt von einem Klassenkampf, der sich als solcher gar nicht ausdrücklich zu erkennen gibt, sondern der eher schon bei der Frage der Metaphern stecken bleibt: Kann man mit Hammer und Bleistift dem richtigen Leben im falschen zum Sieg verhelfen? Gibt es für den arbeitenden Menschen eine andere Perspektive als die eines „Renommierproleten“ bei den reichen Leuten?

Von einem herkömmlichen Revolutionsfilm unterscheidet sich „Blutsauger“ schon einmal dadurch, dass es keine Revolution gibt. Stattdessen geht es um die langen Umwege des Bewusstseins, die hier in toller Landschaft und mit der Anmutung eines hintersinnigen Ausstattungsfilms zurückgelegt werden. Radlmaiers Ironie ist inzwischen so ausgeprägt und entwickelt, dass man dazu beinahe schon wieder einen Lesekreis einrichten könnte. Der könnte dann mit dem „Marx-kritischen Marx-Lesekreis“ fusionieren, mit dem „Blutsauger“ beginnt.

Blutsauger D 2021; 127 Min.; R: Julian Radlmaier; D: Lilith Stangenberg, Alexandre Koberidze, Corinna Harfouch


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