Filmfestspiele

Cannes 2023: Die wichtigsten Preise und Filme des Festivals

Das Filmfestival in Cannes ging am 27. Mai mit einer Goldenen Palme für Justine Triets „Anatomy of a Fall“ zu Ende – nicht der einzige Festivalerfolg für Schauspielerin Sandra Hüller. Für den tipBerlin war Michael Meyns vor Ort. Er schreibt über Wim Wenders, die wichtigsten Preise, herausragende Filme und spannende Tendenzen für die Zukunft des Arthouse-Kinos.

„Perfect Days“ von Wim Wenders: Der deutsche Regisseur war bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2023 quasi omnipräsent. Foto: Cannes FF

Cannes 2023: Wim Wenders’ große Auftritte beim Filmfestival

„Das Kino als Kunstform liegt im Sterben!“ Ein dramatischer Befund, der vom eigentlich meist so optimistisch und gelassenen Wim Wenders stammt. Vor 40 Jahren hatte Wenders „Room 666“ gedreht und Anfang der 80er diverse Regisseure zum Stand der Kino-Dinge befragt. Nun stellte die junge Französin Lubna Playoust die Frage erneut: „Room 999“ hieß der Film, der diverse, meist optimistischer in die Zukunft blickende Regisseure wie Ruben Östlund, Audrey Diwan oder Albert Serra zusammenbrachte.

Und eben Wenders. Der neben Werner Herzog international vermutlich bekannteste deutsche Regisseur war bei den 76. Filmfestspielen von Cannes omnipräsent. Nicht nur durch seinen kurzen Auftritt bei Playoust, sondern vor allem durch gleich zwei Filme, die im offiziellen Programm gezeigt wurden und in ihren jeweiligen Bereichen das beste sind, was Wenders seit gut 30 Jahren gedreht hat: Der Dokumentarfilm „Anselm“ und der Spielfilm „Perfect Days“.

„Anselm“ von Wim Wenders: eine impressionistische Annäherung an Anselm Kiefer

Für „Anselm“, der als Sondervorführung gezeigt wurde, wählte Wenders zum wiederholten Mal die 3D-Technik, mit der er in den Ateliers des seit langem in Frankreich lebenden Anselm Kiefer spektakuläre Bilder fand. Schmeichelnd umkreist die Kamera Kiefers Skulpturen, die ausladenden Hallen, Türme und Gänge des zum Gesamtkunstwerk ausgebauten Ateliergeländes Barjac in Südfrankreich. Keine klassische biographische Dokumentation ist dies, sondern eine impressionistische Annäherung an Denken und Werk eines deutschen Künstlers, der in seiner Heimat oft viel kritischer betrachtet wurde als im Ausland. Hier ist die Filmkritik zu „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ von Wim Wenders.

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Was man auch über Wenders sagen kann, der oft als altmodischer und dem Pathos viel zu sehr zugeneigter Regisseur gilt, der in Cannes 2023 jedoch die besten Kritiken seit mindestens 30 Jahren erhalten hat. Auch von deutschen Kritikern und auch über sein dokumentarisches Schaffen hinaus. Wobei auch sein im Wettbewerb gezeigter Spielfilm „Perfect Days“ viele dokumentarische Elemente enthält: In Tokyo gedreht, beobachtet Wenders den gut 60-jährigen Hirayama (wunderbar verkörpert von Kôji Yakusho, der bei der Preisverleihung dann auch zum Besten Darsteller gekürt wurde), der für The Tokyo Toilet arbeitet und Toiletten reinigt. Tagein, tagaus vollführt dieser Mann dieselben, ganz einfachen Tätigkeiten, steht auf, fährt zur Arbeit, putzt die architektonisch tatsächlich bemerkenswerten Toilettenhäuschen des zentralen Bezirks Shibuya, isst im Park zu Mittag, macht gelegentlich Fotos von den Schattenspielen der Blätter oder anderen, einfachen Dingen des Lebens, geht am Nachmittag in die Badeanstalt, isst Ramen-Nudeln, liest etwas, und am nächsten Tag geht es genauso weiter.

Erst im letzten Drittel spitzt Wenders manches ein wenig zu, kommt es zu Begegnungen, die Hirayamas Verhalten ein wenig unterfüttern sollen. Eigentlich unnötig, denn wie Wenders den nur scheinbar banalen Alltag dieses Mannes schildert, der nicht viel hat, aber auch nicht viel braucht, hätte auch ohne solche psychologischen Momente wunderbar funktioniert.

Sandra Hüller war in zwei der besten Cannes-Wettbewerbsbeiträge zu sehen

Neben Wenders war eine andere Deutsche überaus präsent: Sandra Hüller. In gleich zwei Wettbewerbsbeiträgen war sie zu sehen, zudem zwei der besten, die dann auch mit den Hauptpreisen ausgezeichnet wurden. Die Goldene Palme gewann am Ende nicht überraschend Justine Triets „Anatomy of a Fall“, vordergründig ein Gerichtsdrama. Hüller spielt Sandra, eine aus Deutschland stammende Autorin, die mit Mann und Kind in Frankreich lebt, gut französisch spricht, aber später vor Gericht lieber englisch. Die Sprachverwirrung, das Übersetzen, ist ein Aspekt der Thematik, die mit dem im Titel angesprochenen Fall beginnt: Sandras Ehemann stürzt von der dritten Etage des Chalets in den Tod. War es ein Unfall, Selbstmord oder doch ein Mordanschlag der Ehefrau? Wie schwierig es ist, der Wahrheit auf den Grund zu kommen, angesichts von widersprüchlichen Erinnerungen, Indizien, die mal dies, mal jenes zu bestätigen scheinen, davon erzählt Triet in stilistisch zwar konventionellen Bildern, aber mit hervorragenden Schauspielern, allen voran Hüller. Die Kritik zu „Anatomie eines Falles“ lest ihr hier. Und die große Schauspielerin hat sich mit uns zum Gespräch getroffen: Hier ist unser Interview mit Sandra Hüller.

Goldene Palme 2023 in Cannes: „Anatomy of a Fall“ von Justine Triet, mit Sandra Hüller

Noch besser als hier war Hüller allerdings in Jonathan Glazers „Zone of Interest“, dem stärksten Film in einem starken Wettbewerb, der am Ende mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Lose inspiriert von dem gleichnamigen Roman des am 19. Mai 2023 verstorbenen britischen Autors Martin Amis, zeigt Glazer in glasklaren, extrem kalten und stilisierten Bildern den Holocaust aus der Perspektive der Täter. Im Schatten des Konzentrationslagers Auschwitz lebt der Lagerkommandant Rudolf Höss (Christian Friedel) mit seiner Frau Hedwig (Hüller) und den Kindern. Eine mustergültige deutsche Familie ist dies, Hedwig bestellt den Garten, hat sich nach eigener Aussage ein kleines Paradies gebaut, die Ranken der Blumen werden bald die Mauer zum Lager hochwachsen.

Dass aus dem Hintergrund ein dauerhaftes Dröhnen und Brummen herüber wabert, dass bisweilen Schreie und Schüsse zu hören sind oder man die Klänge des Orchesters hört, mit dem an der Laderampe die ankommenden Häftlinge in Sicherheit gewogen werden sollen, das scheint Hedwig nicht zu stören. Weniger um die Banalität des Bösen geht es, als um die Fähigkeit der Menschen, Dinge auszublenden, nur das wahrzunehmen, was für das eigene Wohlergehen von belang ist.

„Zone of Interest“ von Jonathan Glazer. Foto: Cannes FF

Cannes zeigt: Arthouse-Kino wird immer internationaler

Neben ihrer Qualität sind diese drei Wettbewerbsbeiträge auch Teil einer Tendenz im internationalen Autorenkino, die sich schon in den vergangenen Jahren gezeigt hat, in diesem Jahr in Cannes aber frappierend war: Eine Internationalisierung des Arthouse-Kinos, Co-Produktionen, die etliche Länder umfassen, ein Drehen jenseits der Muttersprache der Filmemacher:innen, in erster Linie natürlich dem Englischen.

Wenders „Perfect Days“ etwa entstand in Japan, mit japanischem Geld, ist offiziell gar kein deutscher Film, so dass German Films, die Exportorganisation des deutschen Films, diesen Wenders-Film gar nicht bewarb. „Zone of Interest“ ist eine amerikanisch-deutsch-polnische Produktion von einem amerikanischen Regisseur, der auf Deutsch und Polnisch gedreht hat. „Anatomy of a Fall“ ist eine französisch-deutsche Produktion, mit einer Deutschen in der Hauptrolle, die mal englisch, meist französisch spricht, was in diesem Fall auch inhaltlich Sinn ergibt.

Ähnlich wie bei „Firebrand“, ein Film des brasilianischen Regisseurs Karim Aïnouz, der in Berlin lebt. Es geht um die letzte Frau des britischen Königs Henri VIII, Alicia Vikander und Jude Law spielen die Hauptrollen in einem schwelgerischen Historienfilm, der einen etwas zu sehr zeitgeistig feministischen Blick auf die Geschichte wirft.

„Firebrand“ von dem Wahl-Berliner Karim Ainouz. Foto: Cannes FF

Jessica Hausner: Dystopische Welt in „Club Zero“

Ist die englische Sprache angesichts der erzählten Geschichte in diesem Fall zwingend, wäre es für die Österreicherin Jessica Hausner in „Club Zero“ durchaus möglich gewesen, auch auf Deutsch zu drehen. Nach „Little Joe“ evoziert sie jedoch erneut eine leicht dystopische Welt, in der es diesmal um die Ernährungsberaterin in einer Eliteschule geht, die ihre Eleven nach und nach davon überzeugt, dass man auch ohne Essen leben kann und damit sogar die Umwelt schützt. Eine Geschichte, die problemlos in den meisten westlichen Nationen hätte spielen können. Eine gewisse globale, universelle Komponente wird sicherlich durch die englische Sprache erreicht, nicht zuletzt entsteht aber auch nur so die Möglichkeit, internationale Stars zu besetzen, in diesem Fall Mia Wasikowska. Im Fall von „Little Joe“ waren es Ben Whishaw und Emily Beecham.

Und man darf sich nichts vormachen: Beim Kampf um die raren Plätze im Wettbewerb von Cannes ist es fraglos ein weiteres Argument, wenn zur Weltpremiere, zum Gang über den legendären roten Teppich auch ein oder zwei bekannte Gesichter zusätzlich anwesend sind. Was sicherlich auch für „Black Flies“ gilt, ein in New York spielendes, in den besten Momenten rasant kinetisches Drama um einen Notfallsanitäter und seine nächtliche Suche nach Erlösung. Regie führte Jean-Stéphane Sauvaire, einer der wenigen französischen Regisseure, die auf Englisch drehen, und nach dem Genrefilm „A Prayer before Dawn“, der vor ein paar Jahren noch als Mitternachtsfilm in Cannes gezeigt wurde, nun in den Wettbewerb aufgestiegen war. Sicherlich auch wegen der Präsenz von Stars wie Tye Sheridan, Michael Pitt, Mike Tyson (!) und vor allem Sean Penn, einem Spezi des Cannes-Chefs Thierry Fremaux, der offenbar eine stehende Einladung zum Festival besitzt.

Kuru Otlar Üstüne“ (About Dry Grasses): Meisterwerk von Nuri Bilge Ceylan

Ein Grund für diese Internationalisierung dürfte auch die Schwierigkeit sein, aufwendigere Filme nur mit den Mitteln eines einzigen, vielleicht auch noch finanziell schwächeren Landes zu finanzieren. Co-Produktionen von teilweise, drei, vier Ländern sind extreme Beispiele, zum Beispiel „Kuru Otlar Üstüne/About Dry Grasses“, ein neues Meisterwerk des türkischen Regisseurs Nuri Bilge Ceylan, dessen Hauptdarstellerin Merve Dizsdar als Beste Darstellerin prämiert wurde. Dies ist eine türkisch-deutsch-französische und nicht zuletzt katarische Produktion.

Einflussnahme von Katar? Cannes-Wettbewerbsfilme erhalten viel Geld vom Golfstaat

Nicht die einzige Beteiligung an Cannes-Filmen aus dem Scheichtum am Golf: Auch Jessica Hausners „Club Zero“ erhielt neben Geld aus Österreich, Deutschland, Dänemark und Großbritannien Geld aus Katar. Das dort ansässige Doha Film Institute verstärkte in den vergangen Jahren seine Beteiligung an zunehmend internationalen Produktionen, wie überhaupt der Einfluss von Geldern für Produktion und Verleih aus den Golfstaaten sukzessive zunimmt. Oft kaum zu erkennen ist dies angesichts einer Firma wie BeIN, die beim im Frühjahr in den deutschen Kinos gelaufenen Guy-Ritchie-Film „Operation Fortune“ beteiligt waren, eine Firma, die einem Staatsfond aus dem Katar gehört.

Ob diese finanzielle Beteiligung aus Ländern, die aus gutem Grund nicht als ganz gewöhnliche Wirtschaftspartner gelten, mittelfristig auch zu inhaltlicher Einflussnahme führt, wird spannend zu beobachten sein. Die finanziellen Mittel Saudi-Arabiens etwa zeigen sich schon an den Summen, mit denen das Red Sea Filmfestival wuchern kann. Und in dem gerade entstehenden, futuristischen und angeblich komplett emissionsfreien Megaprojekt „Neom“, das für mindestens 500 Milliarden Euro am Roten Meer entsteht, wird es Filmstudios geben. Angesichts der erwartbar hohen Zuschüsse und Steuererleichterungen, mit denen internationale Produktionen nach Saudi-Arabien gelockt werden, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis bekannte Vertreter des Arthouse-Kinos am Golf Filme drehen.

Auf dem Filmmarkt in Cannes war Saudi-Arabien jedenfalls mit einem der größten Stände vertreten und bewarb die landschaftlich vielseitigen Möglichkeiten des Landes in augenscheinlich teuer produzierten Clips. Nicht nur die Fußballer Cristiano Ronaldo und vermutlich bald auch Lionel Messi zieht es an den Golf: Wo das Geld so locker sitzt, dürfte bald auch das westliche Arthouse-Kino anbeißen, und sich zum Teil von etwas machen lassen, das man in Anlehnung an das besonders im Zuge der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar diskutierte Sportswashing, dann Artwashing nennen dürfte.

Cannes 2023: Die wichtigsten Preise im Überblick

  • Goldene Palme: „Anatomie d’une Chute (Anatomy of a Fall)“ von Justine Triet
  • Großer Preis der Jury: „The Zone of Interest“ von Jonathan Glazer
  • Preis der Jury: „Kuoleet Lehdet“ (Fallen Leaves) von Aki Kaurismäki
  • Beste Regie: Tran anh Hung für „La Passion de Dodin Bouffant“ (The Pot-Au-Feu)
  • Beste Darstellerin: Merve Dizsdar in „Kuru Otlar Üstüne“ (About Dry Grasses) von Nuri Bilge Ceylan
  • Bester Darsteller: Kôji Yakusho in „Perfect Days“ von Wim Wenders
  • Bestes Drehbuch: Sakamoto Yuji für „Kaibutsu“ (Monster) von Hirokazu Kore-eda

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