Anatol Schusters „Chaos und Stille“ hinterfragt Gesellschaftsstrukturen – und Sehgewohnheiten. Es geht um Klara, die dem Konsum und der Norm entflieht, indem sie alles hinter sich lässt und in Darmstadt auf ein Dach zieht. tipBerlin-Filmkritikerin Carolin Weidner hat den Film gesehen.
Klara steht auf einem Dach in Darmstadt. Einer Eingebung folgend, hat sie gekündigt, ihr Hab und Gut verschenkt, ziemlich viel Geld vom Konto abgehoben, und lebt nun völlig frei in großer Höhe, direkt unter dem Himmel. Ein wenig erinnert sie damit an den geheimnisvollen Bird, den Andrea Arnold erst kürzlich im gleichnamigen Film in Gestalt von Franz Rogowski auf ein britisches Gebäude verpflanzte. Doch wo Birds Existenz im Grunde niemanden juckte, sieht es bei Klara, gespielt von Sabine Timoteo, deutlich anders aus: Ihre Aktion ist Affront und Inspiration zugleich, setzt einen Antitrend zum gegenwärtigen Klima des lauten Konsums, bringt andere entweder auf die Palme oder eben selbst aufs Dach.
„Chaos und Stille“ kratzt an Sehgewohnheiten
Anatol Schusters („Frau Stern“) neuer Film, für den er beim Filmfest in Warschau als bester Regisseur ausgezeichnet wurde, ist ein Gedankenspiel. Es untersucht, was geschieht, wenn dem alltäglichen Strom nur ein kleiner Kontrapunkt entgegengesetzt wird. Keine Miete mehr einzunehmen etwa. Oder seine Autoschlüssel in den Becher eines Obdachlosen zu werfen. Normative Brüche, die niemandem schaden und die trotzdem eine bedrohliche Kraft entfalten. Auch Schuster provoziert in seinem Handwerk bisweilen, kratzt an Sehgewohnheiten: Er erzählt häufiger an als aus, setzt seine Schnitte mutig, überspringt auch mal einige Monate. Folgen kann man ihm dabei immer. Das Gehirn vervollständigt, was Schuster anreißt. Beim Ansehen von „Chaos und Stille“ kann man sich gewissermaßen selbst beim Konstruieren einer Geschichte, einer Realität beobachten.
Der Künstler Jean wird von Klaras Aktion heimgesucht
Oder an der Seite von Jean (Anton von Lucke), einem Komponisten und Jungvater, überprüfen, wie das Darmstädter Beben auf einen wirken könnte. Denn entlang von Jean verläuft die Sollbruchstelle des Films. Seine im Grunde unspektakuläre, auch prekäre Künstlerexistenz wird von Klara nahezu heimgesucht. Denn plötzlich beginnt auch Partnerin Helena, Dinge zu verschenken. Und nicht nur das: Klara, die auf seinem Dach haust, lockt eine Schar von Jüngern an, die mit Gitarren und radikaler Sanftheit den Flur verstopfen.
„Chaos und Stille“ ist ein Film, der zwischen den Zeilen operiert, obschon er das plakative Bild nicht scheut. Aluhüte, reiche Manager, süße Babys, ein hessischer Wutbürger – sie alle treten auf, kommen sich ins Gehege. Es ist viel los in dieser Stadt, die das Kinobild bislang weitestgehend verschmäht hat. Vielleicht ist sie einen kleinen Blick wert.
- Chaos und Stille D 2024; 83 Min.; R: Anatol Schuster; D: Sabine Timoteo, Anton von Lucke, Maria Spanring; Kinostart: 5.6.
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