Filmkritik

„Das Glücksrad“: Ein neues Meisterwerk von Ryūsuke Hamaguchi

Der Japaner Ryūsuke Hamaguchi zählt zu den derzeit wichtigsten Künstlern im Weltkino. Seinen neuen Film „Das Glücksrad“ haben wir deswegen einer ausführlichen Würdigung unterzogen. Eine tipBerlin-Filmkritik von Lars Penning.

„Das Glücksrad“ von Ryusuke Hamaguchi. Foto: Film Kino Text

Ryūsuke Hamaguchi ist spätestens seit „Drive My Car“ ein Star

Der Japaner Ryūsuke Hamaguchi ist einer der aktuellen Regie-Stars des Weltkinos, was er nicht zuletzt dem großen Erfolg seines letzten Films „Drive My Car“ (2021) verdankt. Der Film nach einer Kurzgeschichte des Bestsellerautors Haruki Murakami gewann den Drehbuchpreis beim Festival in Cannes, erhielt je einen Golden Globe und einen Oscar als Bester fremdsprachiger Film sowie diverse weitere Preise in aller Welt – und er lief auch in unseren Kinos mit einigem Zuspruch. Was ja nicht immer selbstverständlich ist für eine dreistündige Literaturverfilmung, die von Verlust und seelischen Verletzungen handelt und dazu in einer ziemlich komplexen Weise ein Geflecht aus Anspielungen, Assoziationen und Metaphern spinnt.

Bekannt geworden war der heute 43-jährige Regisseur ursprünglich mit großen Dokumentarfilmprojekten, drei gemeinsam mit Ko Sakai in den Jahren 2012/13 realisierten Interviewfilmen mit Betroffenen des großen Tōhoku-Erdbebens und anschließenden Tsunamis von 2011.

Ab 2015 konzentrierte sich Hamaguchi jedoch auf Spielfilme: Zunächst entstand mit geringem Aufwand „Happī Awā“, eine mehr als fünfstündige und weitgehend improvisierte Geschichte über die Selbstverwirklichung von vier jungen Frauen, dann 2018 „Asako I & II“ („Netemo sametemo“), eine Literaturverfilmung mit einem für Hamaguchi ziemlich typischen Twist: Innerhalb von zwei Jahren verliebt sich eine junge Frau in zwei Männer, die zwar völlig gleich aussehen, aber jeweils einen vollkommen anderen Charakter haben. Als ihr erster Freund wieder auftaucht, trifft Asako eine (falsche) Entscheidung, die ihr Verhältnis zum zweiten Freund nachhaltig beeinträchtigt.

Ausschnitt aus der dritten Episode in „Das Glücksrad“ von Ryūsuke Hamaguchi. Foto: Film Kino Text

Falsche Entscheidungen, die daraus resultierenden Konsequenzen, die Geister der Vergangenheit, die auch in der Gegenwart immer wieder ihr Haupt erheben, und die Frage, wie man sie vertreiben kann – das kennt man auch aus „Drive My Car“. Und es spielt ebenfalls in Hamaguchis aktuell bei uns ins Kino kommendem „Das Glücksrad“ („Gūzen to sōzō“) eine wichtige Rolle, einem Episodenfilm, der schon vor „Drive My Car“ entstand und bereits auf der Berlinale 2021 lief, wo er den Großen Preis der Jury gewann.

„Das Glücksrad“ von Ryūsuke Hamaguchi: Ein anderes Leben ausmalen

Formal ist „Das Glücksrad“ in drei Episoden gegliedert, die sich ihrerseits wiederum in drei Segmente teilen, jeweils mit längeren Dialogpassagen zwischen zwei Schauspieler:innen. Die erste Episode „Magic (or something less assuring)“ widmet sich der Frage nach den Möglichkeiten, die sich hätten ergeben können, hätte man eine bestimmte Entscheidung nicht getroffen: Als das lebensfrohe und etwas oberflächliche Model Meiko (Kotone Furukawa) den begeisterten Erzählungen ihrer Freundin Tsugumi (Hyunri) über deren neue Beziehung lauscht, muss sie erkennen, dass es sich dabei um ihren Ex-Freund Kazuaki (Ayumu Nakajima) handelt, mit dem sie vor anderthalb Jahren unvermittelt Schluss gemacht hatte. Meiko sucht Kazuaki unverzüglich auf – halb, um ihn zurückzugewinnen, aber mehr noch, um ihm und sich selbst auszumalen, was für ein Leben sie hätten haben können, wäre sie seinerzeit geblieben.

In der zweiten Episode „Door Wide Open“ geht es um die Konsequenzen einer falschen Entscheidung: Der faule und unsympathische Student Sasaki (Shōma Kai) überzeugt seine Geliebte, die verheiratete Nao (Katsuki Mori), von einem Racheplan gegen Professor Segawa (Kiyohiko Shibukawa), der angeblich Sasakis Zukunft ruiniert hat. Nao soll dem Professor, der gerade für seinen Roman einen renommierten Literaturpreis gewonnen hat, eine Venusfalle stellen, ihn verführen und öffentlich unmöglich machen. Nao lässt sich darauf ein, doch die Begegnung mit dem Professor in dessen Büro nimmt eine völlig unerwartete Wendung.

Zwar liest Nao ihm vor allem die sehr explizit erotischen Passagen seines Romans vor, doch Segawa interessiert sich nur für ihre schöne Lesestimme. Und Nao ist von den sensiblen An- und Einsichten des Professors und seinem massiven Zuspruch für ihr geringes Selbstwertgefühl so fasziniert, dass sie ihren Plan aufgibt und dem Professor beichtet. Doch der böse Gedanke hat in einem weiteren Hamaguchi-typischen Plot-Twist noch seine Konsequenz: Weil der Professor gern den von Nao aufgenommenen Audio-Mitschnitt der freimütigen Konversation haben möchte, schickt Nao diesen per E-Mail – leider an die falsche Adresse…  

„Das Glücksrad“ und die Geister der Vergangenheit

Die letzte Episode „Once Again“ handelt schließlich von der Bekämpfung von Geistern der Vergangenheit und enthält ebenfalls verschiedene ungewöhnliche Wendungen. Hamaguchi selbst hat in Statements immer wieder sein großes Interesse an Zufällen bekundet. Auf der Rolltreppe eines Vorortbahnhofs begegnen sich mit überraschter Wiedersehensfreude zwei Frauen, die sich als ehemalige Klassenkameradinnen erkennen: Nana (Aoba Kawai) lädt Moka (Fusako Urabe) sogleich zu sich nach Hause ein, solange die Kinder noch nicht aus der Schule zurück sind.

Doch nach einer Weile Konversation merken beide: Es war ein Irrtum, sie kennen sich überhaupt nicht. Weil aber Nana inzwischen gemerkt hat, wie wichtig Moka die Begegnung mit der tatsächlichen Klassenkameradin, ihrer großen Jugendliebe, gewesen wäre, schlägt sie ihr vor, in einem Rollenspiel deren Part zu übernehmen. In einem heilsam therapeutischen Gespräch kann Moka nun all die Dinge sagen, die seinerzeit ungesagt blieben.

Geschichten und Worte, auch jene, die bislang nicht ausgesprochen wurden, haben in Hamaguchis Filmen stets große Macht. Literatur, Theater, Audiotapes, fantasievoll ausgemalte mündliche Erzählungen, all dies spielt sowohl inhaltlich als auch inszenatorisch immer wieder eine Rolle. Als Episodenfilm ist „Das Glücksrad“ dabei möglicherweise sogar zugänglicher als „Drive My Car“, und auch wenn er dessen fantastische Dichte nicht ganz erreicht, ist dieser Film immer noch besser als das meiste, was man sich aktuell sonst noch ansehen könnte.

Gūzen to sōzō J 2021, 121 Min., R: Ryūsuke Hamaguchi, D: Kotone Furukawa, Katsuki Mori, Fusako Urabe, Start: 1.9.

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