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Neu im Kino

Filmstarts der Woche: Mit „Morbius“ und „Das Ereignis“ nach Annie Ernaux

Der Medienkonzern Sony versucht seit einigen Jahren, neben dem Filmuniversum mit den Superhelden von Marvel ein besonderes Spider-Man-Universum aufzuziehen. Diese Woche startet „Morbius“, der damit nur sehr am Rande zu tun hat, gerade deswegen aber die Neugierde der Fans erregt. Darüber hinaus aber ist das eine Woche für Arthouse-Starts: Asghar Farhadi, 2011 Sieger der Berlinale, mit „A Hero“, Audrey Diwan, vergangenes Jahr Siegerin in Venedig, mit „Das Ereignis“, das sind zwei hochkarätige Titel. Diese und alle weiteren im tipBerlin-Überblick über die Filmstarts der Woche.


Morbius

„Morbius“ von Daniel Espinosa. Foto: Sony

ACTION In Comic-Form hat sich an Superhelden-Geschichten im Lauf der Jahre so einiges an Material angesammelt. Kein Wunder, es musste ja jede Woche ein neues Heftchen erscheinen. Da tauchten dann allerlei Nebenfiguren auf, mit denen sich jetzt, da gefühlt jede Woche ein neuer Superheldenfilm erscheint, die kreativen Pausen füllen lassen. So zum Beispiel mit Michael Morbius. Der Mann hat es mit Fledermäusen, ist also vom Gefühl her eher der düsteren Welt des Batman zuzuordnen, er gehört aber zum Spider-Man-Universe der Firma (für Fans reicht das Kürzel: SSU). Michael Morbius leidet unter einer schweren Blutkrankheit, die er mit einem Forschergenie bekämpft, das auch zu weit geht.

Vampire, die tagsüber raus dürfen, sind eine halbe Sache: „Morbius“ von Daniel Epinosa

Auf einem Schiff mit dem ominösen Namen Murnau (für Liebhaber der Filmgeschichte: so hieß der Regisseur des Klassikers „Nosferatu“ aus dem Jahr 1922) kommt es zu der fatalen Wende: Michael Morbius infiziert sich mit einem Mythos. Er wird zu einem Vampir, wobei Regisseur Daniel Espinosa die diesbezüglichen Regeln flexibel auslegt – die Tageslichtfrage stellt sich bei einem insgesamt betont finsteren Film aber sowieso nur am Rande.

Vampire müssen die Sonne meiden, in heutigen Superheldenfilme scheint die aber auch aus digitalen Gründen sowieso selten. Ein bisschen spannend wird „Morbius“ dadurch, dass Michael einen besten Freund hat, der ebenfalls an einer schweren Krankheit leidet, die ihn zu einem einsamen Außenseiter macht. Milo (Matt Smith, bekannt aus „The Crown“) geht aber mit der Entdeckung von Michael (Jared Leto) anders um. Er begrüßt seine Verwandlung begeistert, und wird zu einem gefährlichen Fabelwesen.

„Morbius“ ist ein wenig überzeugendes Anhängsel zum SSU. Im Grunde handelt es sich um ein langes Vorgeplänkel zu einem Schlussgag, der im Abspann wartet. Denn dort wird enthüllt, wie es sich mit dem Firmenbündnis verhält, das zu Beginn enthüllt wird: In Association with Marvel Comics. „Morbius“ soll also zu beiden Universen gehören, sowohl zu dem, in dem Disney fast alle Superhelden zusammengesammelt hat, wie auch zu dem Nebenstrang, den Sony gern zu einer eigenen Filmserie expandieren lassen würde. Für Fans mag das immer noch halbwegs unterhaltsam sein, für Menschen, die sich auch für andere Formen von Kino interessieren, wird das ganze Figurengeschiebe bei den Superhelden aber zunehmend zu einem Zeitklau. Bert Rebhandl

USA 2022; 105 Min.; R: Daniel Espinosa; D: Jared Leto, Matt Smith, Adria Arjona; Kinostart: 31.3.

A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani

„A Hero – Die verlorene Ehre des Herrn Soltani“ von Asghar Farhadi. Foto: Neue Visionen

DRAMA Eine Sache weiß man spätestens seit dem mit dem Oscar, dem Goldenen Bären und dem Golden Globe ausgezeichneten Ehedrama „Nader und Simin – Eine Trennung“ von 2011: Der iranische Filmemacher Asghar Farhadi ist ein ganz großer Könner, wenn es darum geht, einfach strukturierte Geschichten von ganz normalen Menschen spannend und nachvollziehbar zu erzählen. Nach seinen Ausflügen nach Frankreich („Le passé“) und Spanien („Offenes Geheimnis“) – zwischendurch holte sich Farhadi noch einmal den Auslands-Oscar für „The Salesman“ ab – spielt dessen neuer Film nun wieder im Iran und konnte 2021 den Großen Preis der Jury in Cannes gewinnen.

Im Mittelpunkt von „A Hero“ steht Rahim Soltani (Amir Jadidi), mit dem es das Schicksal bislang alles andere als gut gemeint hat. Er ist geschieden und sitzt im Gefängnis, weil er die Schulden an seinen Gläubiger Braham (Mohsen Tanabandeh) nicht bezahlen kann, nachdem er eine Firma in den Sand gesetzt hatte. Als seine Freundin Farkhindeh (Sahar Goldust) bei einem seiner Freigänge eine Frauentasche mit Goldmünzen findet, will Rahim mit ihnen zuerst seine Schulden begleichen. Doch dann packt ihn das schlechte Gewissen, und er gibt den wertvollen Fund zurück. Wo er das Geld doch so gut brauchen könnte. Ein guter Anlass für die Gefängnisleitung und die Medien, den Häftling in der Öffentlichkeit zum Samariter zu stilisieren; sogar ein Hilfsfond sammelt Geld für Rahim. Doch dann kommt der Verdacht auf, Rahim hätte sich die ganze Sache nur ausgedacht, dabei hatte er doch nur sich selbst anstatt der Freundin als Finder genannt – eine Spirale von Lügen, Vertuschungen und Verteidigungen wird in Gang gesetzt.

Abgesehen davon, dass man die Tour de Force der mitunter etwas tapsigen Hauptfigur empathisch verfolgt, entpuppt sich Autor und Regisseur Farhadi erneut als großer Erzähler mit einem Gespür für Nuancen und Figurencharakterisierung. Doch mindestens ebenso interessant ist es, einen Einblick in die iranische Gesellschaft – hier ist es die Großstadt Schiras – zu erhalten. So zum Beispiel, dass es offenbar möglich ist, zum Tode Verurteilte durch eine Kaution am Leben zu erhalten. Und auch hier wie in viel zu vielen anderen Gesellschaften ist die Verteidigung der Ehre besonders für die Männer immens wichtig. Martin Schwarz

Iran/F 2021; 127 Min.; R: Asghar Farhadi; D: Amir Jadidi, Mohsen Tanabandeh, Fereshteh Sadre Orafaly; Kinostart: 31.3.


Abteil Nr. 6

„Abteil Nr. 6“ von Juho Kuosmanen. Foto: eksystent

KOMÖDIE Die Petroglyphen von Murmansk sind eine archäologische Attraktion für Eingeweihte. Die finnische Studentin Laura ist so jemand. Sie fährt lieber ans Polarmeer als zu den Höhlenmalereien in Frankreich. Allerdings hat sie sich die große Fahrt ein wenig anders vorgestellt: sie wollte mit ihrer Freundin Irina den Zug nehmen, ihre junge Liebe feiern. Doch Irina war wohl gar nicht so heftig verliebt, wie Laura dachte. Und so ist sie nun eben allein in dem „Abteil Nr. 6“, in dem sie die nächsten paar Tage verbringen wird. Und dann ist sie plötzlich nicht einmal mehr allein. Ein junger Mann kommt daher, ein ausgesprochener Rüpel, wie es den ersten Anschein hat. Ljoha muss nach Murmansk, weil er dort einen Job hat, eine Sache für härtere Männer. Irina muss sich mit ihm das „Abteil Nr. 6“ teilen.

Der finnische Regisseur Juho Kuosmanen hat sich da etwas ausgedacht, was anfangs ein bisschen stark nach typischer Drehbuchrezeptur klingt: ein geschlossener Raum, darin zwei Menschen, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Er füllt diese Idee aber dann sehr gut mit Leben: die beiden Schauspieler Seidi Haarla und Yuriy Borisov lassen ihre Figuren plausibel lebendig werden, der russische Alltag wird in vielen spannenden Facetten erkennbar, und schließlich wird auch das mythologische Ziel der Reise nach Murmansk und auf die unwirtlichen Felsen am eisigen Meer zugleich eingelöst und aufgehoben. Unweigerlich wird man „Abteil Nr. 6“ auch vor dem Hintergrund der aktuellen Politik in Russland sehen: als ein Dokument des europäischen Humanismus, zu dem auch jemand wie Ljoha gehört. Bert Rebhandl

Hytti nro. 6 (OT); Finnland 2021; R: Juho Kuosmanen; D: Seidi Haarla, Yuriy Borisov, Vladimir Lysenko; Kinostart: 31.3.


Das Ereignis

Anamaria Vartolomei in „Das Ereignis“ von Audrey Diwan. Foto: Prokino

DRAMA Anne, 23, ist entsetzt als sie ihre Schwangerschaft entdeckt. Ihren Eltern, einfachen Leuten, die so stolz sind auf ihre studierende Tochter, kann sie sich nicht anvertrauen; sie würden ihr doch nur zum Abbruch des Studiums raten. Der Abbruch der Schwangerschaft wiederum ist undenkbar für den Gynäkologen, den Anne aufsucht. So undenkbar wie es für ihre Freundinnen ist, Beistand zu leisten, denn nicht nur die Abtreibung ist verboten, auch Komplizenschaft ist von Strafe bedroht. Schließlich kennt dann aber doch noch Jemand Jemanden, der/die Jemanden kennt und Anne erhält die Adresse einer Engelmacherin. War der Weg bis dorthin schon schwer, wird es nun richtig bitter.

Nüchternheit und tragische Wucht: „Das Ereignis“ von Audrey Diwan

Das Recht auf Selbstbestimmung ist für Frauen keine Selbstverständlichkeit. Das war es nicht im Frankreich des Jahres 1963, in dem diese Geschichte spielt, und das ist es nicht im Polen der Gegenwart oder im US-Bundesstaat Texas, um nur einmal zwei aktuelle Beispiele zu benennen.

„Das Ereignis“beruht auf dem gleichnamigen, 2000 erschienenen, autobiografischen Bericht der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux; Audrey Diwan hat ihn als gradliniges, dramatisches Werk adaptiert, in dem Nüchternheit und tragödische Wucht beeindruckend mühelos ineinander fließen. Was an „Das Ereignis“ mit am Schwersten zu ertragen ist, ist das Alleingelassensein der Hauptfigur, ist die Tatsache, dass da eine junge Frau für ihr Begehren und ihre Lust auf grausame Weise abgestraft wird. Anne, wie Anamaria Vartolomei sie gestaltet, biedert sich nicht an und sie heischt auch kein Mitleid. Sie kämpft um ihre Zukunft und ihr Glück. Sie kämpft um ihr Recht. Bei den Filmfestspielen in Venedig im vergangenen Jahr wurde „Das Ereignis“ mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Alexandra Seitz

F 2021; 100 Min.; R: Audrey Diwan; D: Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet Klein, Sandrine Bonnaire; Kinostart: 31.3.

Ein Interview mit Regisseurin Audrey Diwan haben wir hier


Bis wir tot sind oder frei

„Bis wir tot sind oder frei“ von Oliver Rihs. Foto: Port au Prince

„Züri brännt“ – so der Titel eines berühmten Dokumentarfilms von 1980 über die damaligen Jugendkrawalle. Der banale Auslöser: Der Züricher Stadtrat hatte Unsummen für die Sanierung der Oper bewilligt und zugleich Forderungen nach einem selbstverwalteten Jugendzentrum abgelehnt. Mittendrin in der Rebellion zwei Frauen: die deutsche Revoluzzerin Heike Vollmer (Jella Haase) und die kämpferische Anwältin Barbara Hug (Marie Leuenberger). Die eine wegen des Spaßes am Krawall, die andere mit dem Ziel, das verkrustete Schweizer Justizsystem aufzumischen, davon kann Barbara auch ihr schwacher Körper – sie ist auf regelmäßige Dialyse-Behandlungen angewiesen und muss eine Krücke benutzen – nicht abhalten.

Die Filme des seit langem in Berlin lebenden Schweizers Oliver Rihs haben sich immer durch einen gewissen Hang zur Anarchie ausgezeichnet, „Schwarze Schafe“ (2006) ebenso wie zuletzt „Affenkönig“ (2016). Man könnte das Wort „Anarchie“ auch durch „Freiheit“ ersetzen, Freiheit des Geistes, Freiheit des Individuums, Freiheit des Lebensstils. Darum ging und geht es Rihs. Und davon handelt auch der auf wahren Begebenheiten basierende Film „Bis wir tot sind oder frei“. Heike und Barbara begegnen einem Menschen, der eine ganz andere Art von Freiheit auslebt: der Berufskriminelle und Ausbrecherkönig Walter Stürm (Joel Basman). Den Mann aus reichem Hause interessiert Politik überhaupt nicht, eher schnelle Autos und Aufmerksamkeit. Dennoch fühlen sich beide Frauen zu ihm hingezogen. Und als Stürm wieder mal im Knast sitzt und zu Isolationshaft verdonnert wird, ist es Barbara, die die Idee hat, diesen Mann als Galionsfigur der linken Szene aufzubauen. Fortan heißt es bei Demos: „Freiheit für Stürm!“

Sowohl Barbara Hub als auch Walter Stürm hat es wirklich gegeben. Es stört Oliver Rihs offensichtlich wenig, dass beide nicht wirklich zur Heldenfigur taugen. Sie, die Unnahbare mit Sympathien für die radikalen Linken in Westdeutschland, er, der Egomane und Einzelgänger mit dicker Hose. Rihs entwickelt in seinem bisher reifsten Film vielschichtige (und großartig gespielte) Charaktere, an denen man sich auch reiben soll, und er singt in seinem kraftvollen, souverän erzählten Film zugleich ein Hohelied auf die Freiheit. Auch wenn dieses Lied mal schrill klingt oder gar nervt. Martin Schwarz

CH/D 2020; 118 Min.; R: Oliver Rihs; D: Marie Leuenberger, Joel Basman, Jella Haase; Kinostart: 31.3.


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Wer noch Filme aus der Vorwoche nachholen will, findet hier den Überblick; zudem haben wir ausführlich mit dem Regisseur Alireza Golafshan gesprochen, dessen Komödie „JGA. Jasmin. Gina. Anna.“ gerade läuft. Wir fragten den Chef der Yorck-Gruppe, Christian Bräuer, wie die Yorck-Kinos die Corona-Maßnahmen überstehen konnten. Ihr wollt Hintergrundinfos zu Filmen, Interviews mit Schauspieler:innen und erfahren, welche Kinos es sich besonders zu besuchen lohnt? Dann schaut in unsere Kino & Streaming-Rubrik.

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