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Interview

Doku über Fleischindustrie: „Bei Behörden mehr Transparenz erwartet“

Als der Dokumentarfilm „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ Anfang des Jahres in Saarbrücken Premiere hatte, da wusste man kaum etwas von Corona, und auch die Zustände in den deutschen Fleischfabriken waren den meisten Menschen egal. Das änderte sich dann bald, und plötzlich war die Regisseurin Yulia Lokshina eine gefragte Gesprächspartnerin. Auch dem tip hat sie ein Interview gegeben

Yulia Lokshina
Yulia Lokshina drehte „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ über die Fleischindustrie. Foto: jip

tipBerlin Frau Lokshina, wie kamen Sie zu dem Thema, das Sie in „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ behandeln?

Yulia Lokshina Das ging erstmal ganz klassisch über Berichte in der Presse. Ganz konkret war dann eine kleine Zeitungsmeldung von Bedeutung: ein tödlicher Unfall eines polnischen Arbeiters in einem Fleischwerk. Das war ungefähr vor drei Jahren, ich begann zu innereuropäischer migrantischer Arbeit zu recherchieren, mit Akteur*innen zu sprechen und mich vor Betriebe zu stellen. Das hat mich sicher auch aufgrund meiner persönlichen Biografie und Migrationsgeschichte interessiert. Ich bin in Russland geboren.

tipBerlin Damals konnten Sie natürlich nicht ahnen, welche Aufmerksamkeit dieses Thema 2020 haben würde, als durch die Corona-Infektionen in Fleischfabriken die ausgebeuteten Leiharbeiter*innen aus Osteuropa in den Mittelpunkt rückten.

Yulia Lokshina Der Film ist jetzt nach den Berichten über die Bedingungen in den Fleischfabriken in eine ganz andere Realität hineingeboren worden, als sie während der Produktion existiert hat. Am Anfang mussten wir schon sehr sehr viel erklären und einordnen. Was hat das dokumentarische Kino darüber bisher gemacht? Was ist ein Subunternehmen? Das waren die Voraussetzungen, bis man überhaupt zu einer Filmsprache kam, also darüber sprechen konnte, wie so etwas erzählt werden könnte. Jetzt fällt der erste Teil weg, jetzt haben die Leute schnell das Gefühl, dass sie über die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie schon sehr viel wissen, dass man gesellschaftlich vieles davon schon verstanden hat, obwohl die öffentliche Diskussion des Problems eigentlich noch immer sehr verengt ist.

"Regeln am Band, mit hoher Geschwindigkeit"
„Regeln am Band, mit hoher Geschwindigkeit“. Foto: jip

„Regeln am Band“: Fleischindustrie wenig Interesse an Dreharbeiten

tipBerlin Haben Sie versucht, in einer Fabrik zu drehen?

Yulia Lokshina Wir haben uns davon recht schnell verabschiedet und eine indirekte Erzählform gewählt. Diese Verlagerung hat uns erlaubt, viele Orte und Personen zu zeigen, die genauso relevant sind wie das Fließband oder tote Tiere, die aber weniger im Blickfeld stehen, sie bedienen aber vielleicht weniger die Schaulust.

tipBerlin Ein wichtiger Teil des Films ist die Begleitung einer Münchner Schulklasse, die sich das Stück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ von Brecht erarbeitet.

Yulia Lokshina Das kommt aus meiner Fragestellung: Wie sprechen wir über Dinge, die uns angehen? Wer trägt für was Verantwortung? Was wird zu einem Thema? Wie entsteht eine kritische Masse? Europa ist mit sehr vielen Narrativen belegt. In Osteuropa existiert das Narrativ von dem wirtschaftlich starken, florierenden, glücklichen Westeuropa vor, das auch ein Versprechen von Erfüllung enthält. Das Narrativ von Europa, das eher in der Schule vertreten wird, handelt von einer großen breiten Gerechtigkeit und einer Werteunion, in der es für alles mehr oder weniger eine Lösung gibt. Es ist gar nicht so leicht, auf Brüche in solchen Narrativen mit einer eigenen Sprache zu antworten.

tipBerlin Grenzen Sie sich mit der Schulklasse von der klassischen Sozialreportage ab?

Yulia Lokshina Der Film ist ein künstlerisches und ein politisches Projekt, wenn auch nicht in der aktivistischen Form. Die Situation mit den migrantischen Arbeiter*innen wird gern als eine Parallelwelt beschrieben, geprägt durch eine gewisse Unsichtbarkeit. Die Schulklasse soll diese Parallelwelt von einer anderen Seite her beleuchten. Was denken diese Jugendlichen aus einer großen sozialen oder wirtschaftlichen Distanz? Sie sind ja die künftige Mittelschicht, die den Staat tragen wird, und von der es abhängen wird, in welche Richtung Deutschland sich entwickelt: Grenzen öffnen/schließen, politischer Druck ja/nein?

"Regeln am Band, mit hoher Geschwindigkeit"
Die Erkenntnisse schockieren nach 2020 weniger, Lokshina baute sie aber in eine spannende Erzählung über ein schlimmes System ein. Foto: jip

tipBerlin Es sieht manchmal so aus, als hätten Sie mit einer unsichtbaren oder zumindest sehr diskret positionierten Kamera drehen müssen.

Yulia Lokshina Wir haben uns bewusst zurückgehalten um das Geschehen zu beobachten. In geschlossenen Räumen muss man natürlich eine Genehmigung einholen. Bestimmte Institutionen waren unerwartet vorsichtig, bei Behörden hätte ich mehr Transparenz erwartet, da findet man aber manchmal überraschend wenig Vertrauen.

Der Film erzählt ruhig und strukturell

tipBerlin Haben Sie juristische Schwierigkeiten durch die Fleischindustrie befürchtet?

Yulia Lokshina Wir sind in eine Öffentlichkeit katapultiert worden, mit der niemand gerechnet hat. Eigentlich haben wir nicht viel mehr als das Schicksal eines künstlerischen Dokumentarfilms erwartet, also eine bescheidene Aufmerksamkeit. Nun ist der Film plötzlich in den Leitmedien unterwegs. Der Film erzählt aber ruhig und strukturell, das haben wir auch von Anfang an gesucht, wir wollen das Problem nicht nur auf einen bestimmten Betrieb verengen und sagen: Der eine Chef ist halt ein Schwein. Wir wollen uns auf gesellschaftliche Verflechtungen fokussieren. Letztlich sind wir auch zu klein und zu kontemplativ, als dass die großen Konzerne auf uns achten.

tipBerlin Wie haben Sie die Reaktionen bisher erlebt?

Yulia Lokshina Wir hatten in Saarbrücken im Januar beim Max-Ophüls-Preis Premiere und wurden als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet, aber bis zur der Infektionswelle in den Schlachthäusern war es noch relativ still. Danach gab es relativ schnell eine größere mediale Kettenreaktion, ein Interview in der Süddeutschen, dann das Heute Journal, alle Radiostationen. Wir hatten plötzlich eine ganz andere Reichweite, und das hatte sicher vor allem mit den Corona-Ereignissen zu tun. Der Film deckt ja nichts auf, was nicht vorher schon in der Öffentlichkeit gewesen ist. Diese Abhängigkeitssysteme waren bekannt. Er setzt die Elemente aber neu zusammen.

"Regeln am Band, mit hoher Geschwindigkeit"
„Regeln am Band, mit hoher Geschwindigkeit“. Foto: jip

Dramatische Geschichte einer Arbeiterin ist zentraler Punkt

tipBerlin Ein zentraler Punkt des Films ist die dramatische Geschichte einer Arbeiterin, die ihr Kind in einer Garage zur Welt brachte und es danach aussetzte. Wie Sie das aufgreifen, ist auch ein gutes Beispiel für Ihr indirektes Erzählen.

Yulia Lokshina In diesem Fall gibt es die persönliche Komponente der Beziehung zu dieser Frau, die eine wahnsinnig traumatische Geschichte erlebt hat. Sie hat damit bis heute keinen Frieden. Es war lange nicht klar, ob das in dem Film überhaupt eine Rolle spielen kann. Man konnte ihr nicht zumuten, das vor der Kamera zu erzählen. Das stand also gar nicht zur Debatte. Ich zeige nun, wie Inge, eine deutsche Aktivistin, sich mit diesem Fall und den Umständen beschäftigt. Dabei kommen drei Zeitebenen zusammen: das, was die Frau erlebt hat, dann ihre Aufarbeitung mit Inge, und schließlich das, was im Film ist: Inge geht den Weg nach, den die schwangere Frau damals in ihrer Verzweiflung gegangen ist. Diese Überlagerung der vermittelten Erzählung interessiert mich.

Die Lücken, in denen das Soziale nicht sozial ist

tipBerlin Der Film ist hoch politisch und fordert zu Reaktionen heraus. Essen Sie persönlich Fleisch? Und wie würden Sie Ihre politische Haltung beschreiben?

Yulia Lokshina Ich esse Fleisch, eine Zeitlang habe ich vegetarisch gelebt, und dann nicht mehr. Entscheidend ist, dass man bewusst tut, was man tut. Wenn man ein billiges Hotdog an der Ecke isst, macht man sich zumindest keine Illusionen darüber, wo das herkommt. Über das Wirtschaftssystem müssen wir einmal ganz grundsätzlich sprechen. Interessant finde ich, dass die Jugendlichen in München den Kommunismus doch sehr eindeutig als gescheitertes Modell sehen. Sie nehmen das, was wir jetzt haben, als gegeben hin, etwas Besseres wurde halt nicht erfunden. Wenn das System an einer Stelle nicht ganz greift, ist das eben Pech. Diese Lücken, in denen das Soziale nicht sozial ist, müssen aber genau beleuchtet werden, damit sich weniger Leute daran den Hals brechen.

tipBerlin Wie kamen Sie zum Kino?

Yulia Lokshina Nach der Schule habe ich mich erst einmal für alles interessiert, und einen sehr konfusen interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Bachelor gemacht. Dann hatte ich das Bedürfnis, etwas Handfestes zu machen. So habe ich im Rahmen von diesem ersten Studium als Abschlussarbeit einen Film gemacht, das war zwar ungewöhnlich, aber es ging. Diese Erfahrung von Praxis war ganz stark und wichtig toll. Damit war ein Filmstudium ein naheliegender Weg. Das Machen ist ganz berauschend.

tipBerlin Spielt Ihre erste Heimat Russland für Sie noch eine große Rolle?

Yulia Lokshina Auf jeden Fall. Familiär und kulturell. Ich versuche auch immer wieder, Filme dort zu machen. In meinem nächsten Projekt wird es um Moskau gehen, um den Versuch eines Stadtporträts, das ist zugleich auch ein Forschungsprojekt für eine künstlerische Promotion. Grundlage soll das Moskauer Tagebuch von Walter Benjamin sein. Ich möchte der Frage nachgehen: Was bedeutet es, einen Text in ein dokumentarisches Bild zu übersetzen?

„Regeln am Band, mit hoher Geschwindigkeit“ startet am 22. Oktober in den Kinos. Hier die tip-Filmkritik und ein Überblick über die weiteren Kinostarts vom 22. Oktober. Wer gern vegan essen geht, findet hier tolle Restaurants. Und natürlich gibt es auch veganen Kuchen in Berlin. Und wenn ihr wissen wollt, wo euer Fleisch herkommt, empfehlen sich diese Fleischereien.

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