Filmkritik

„Drive My Car“ von Hamaguchi: Exquisite Filmkunst nach Murakami

Der Bestsellerautor Haruki Murakami ist ein Meister der lakonischen Beschreibung alltäglicher Dinge. Bei ihm kriegt alles einen Glanz. Ryusuke Hamaguchi, ein Bruder im Geist, hat nun eine Kurzgeschichte von Murakami verfilmt: „Drive My Car“, ein später Höhepunkt des Kinojahres. Die tipBerlin-Filmkritik von Lars Penning.

„Drive My Car“ von Ryusuke Hamaguchi. Foto: Rapid Eye Movies

Frau am Steuer: In „Drive My Car“ geht es auch um die Feinheiten des Straßenverkehrs

Wenn jemand eine Kurzgeschichte verfilmt, erwartet man dann einen dreistündigen Film, in dem der Titelvorspann vierzig Minuten nach Beginn einsetzt? Wer bereits Filme des japanischen Regisseurs Ryûsuke Hamaguchi kennt: vielleicht. Sonst wohl eher nicht. Und wenn jemand in diesem Film sagt: „Fahren sie mich an einen Ort, den Sie mögen“, erwartet man dann, dass die Protagonist:innen alsbald auf eine Müllverbrennungsanlage blicken und angesichts zerkleinerter Müllberge die Assoziation von Schnee haben?

„Drive My Car“ ist in vielerlei Hinsicht ein ungewöhnlicher Film. Dass er sich sehr viel Zeit nimmt, ist offensichtlich, aber er nutzt diese Zeit auch, um in einer ebenso komplexen wie allgemeinverständlichen Weise ein Geflecht aus Anspielungen, Assoziationen und Metaphern zu spinnen in einer Geschichte, die von Verlust und persönlichen seelischen Verletzungen handelt und der Frage, wie man diesen Geistern der Vergangenheit am besten begegnet.

Der Film beruht auf einer Kurzgeschichte des auch im Westen hinlänglich bekannten Bestsellerautors Haruki Murakami und erzählt in den ersten 40 Minuten die Vorgeschichte der eigentlichen Story: Während Theaterregisseur Yûsuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima) in seiner aktuellen Bühnenproduktion von Tschechows Stück „Onkel Wanja“ in der Titelrolle auftritt, arbeitet seine Frau Oto (Reika Kirishima) als Drehbuchautorin für die Serienproduktion eines TV-Senders.

„Drive My Car“ von Ryusuke Hamaguchi. Foto: Rapid Eye Movies

Für Oto gehören Kreativität und Sex in einem Ritual zusammen: Immer, wenn sie mit ihrem Mann geschlafen hat, spinnt sie anschließend die Geschichte weiter, an der sie gerade arbeitet. Aktuell erzählt sie von einem Mädchen, das immer wieder in das Haus eines Jungen eindringt, in den sie heimlich verliebt ist, und dort kleine Zeichen ihrer Anwesenheit versteckt, ohne dass er dies zu bemerken scheint. Als Yûsuke eines Tages unerwartet nach Hause kommt, findet er Oto beim Sex mit einem populären Serienstar vor, doch er zieht sich – vielleicht – unbemerkt zurück. Das Leben geht weiter wie zuvor, zu einer möglichen Aussprache kommt es nicht mehr, als Oto völlig unerwartet an einem Hirnschlag stirbt.

Zwei Jahre später ist Yûsuke mit einer neuen Produktion von „Onkel Wanja“ bei einem Festival in Hiroshima eingeladen, wo man seinen Ansatz schätzt, mit Schauspieler:innen verschiedener Nationalitäten und Sprachen zu arbeiten. So castet er etwa eine Mandarin sprechende Chinesin aus Hongkong, eine weitere Schauspielerin trägt ihre Dialoge in koreanischer Gebärdensprache vor, und auch der japanische Serienstar, den Yûsuke mit seiner Frau ertappt hatte, findet sich in der Besetzung wieder. Natürlich hat er sich nicht zufällig beworben, und natürlich bekommt er auch nicht zufällig die Rolle des Onkel Wanja.  

Yûsuke hat sich ausbedungen, ein Hotelzimmer etwa eine Autostunde vom Theater entfernt zu bekommen, die Fahrzeit möchte er jeweils nutzen, um nachzudenken und in seinem alten roten Saab ein noch von Oto mit den Dialogen aus „Onkel Wanja“ besprochenes Tape zu hören. Umso befremdeter ist er zunächst, als ihm die Festivalleitung erklärt, aus versicherungstechnischen Gründen eine Fahrerin für ihn engagiert zu haben. Misaki (Tôko Miura) ist eine junge, schweigsam und verschlossen wirkende Frau, die einfach ihre Arbeit macht, ein dienstbarer, unaufdringlicher Geist wie es scheint.

„Drive My Car“ von Ryusuke Hamaguchi. Foto: Rapid Eye Movies

Hamagauchi hat bei der Berlinale 2021 einen silbernen Bären bekommen

Der 43-jährige Regisseur Ryûsuke Hamaguchi gehört zur jüngeren Generation wichtiger japanischer Autorenfilmer, der im bisherigen Verlauf seiner Karriere zwischen großen Dokumentarfilmprojekten (drei gemeinsam mit Ko Sakai gedrehte Interviewfilme mit Betroffenen des großen Erdbeben und anschließenden Tsunamis von 2011 entstanden in den Jahren 2012/13) und mit geringem Aufwand inszenierten Spielfilmen (wie „Happî awâ“, eine mehr als fünfstündige, weitgehend improvisierte Geschichte über die Selbstverwirklichung von vier jungen Frauen) pendelte. Mit dem Episodenfilm „Gûzen to sôzô“ (2021) gewann Hamaguchi bei der diesjährigen Berlinale den Großen Preis der Jury und bekam einen Silbernen Bären.

Auch sein neuer Film „Drive My Car“ erzählt inszenatorisch unaufdringlich, aber absolut zwingend, indem er all die kleinen Geschichten, Anspielungen und Abzweigungen zu einem überaus komplexen Gebilde verwebt: Zum einen gibt es die Arbeit an „Onkel Wanja“, bei der die Schauspieler:innen sich dem Text und ihren Rollen annähern und zugleich Wege finden müssen, sich ihren Mitspieler:innen gegenüber zu öffnen, die sie sprachlich nicht verstehen können.

Zum anderen erfährt die aufmerksame Misaki bei den Autofahrten durch Hiroshima stückweise immer mehr vom Seelenzustand Yûsukes, der noch immer mit dem Verlust von Oto und mit ihrer Untreue hadert – und vor allem mit dem Schuldgefühl, aufgrund seiner Angst vor einer Aussprache am Schicksalsabend nicht früher nach Hause gekommen zu sein, auf dass er Oto vielleicht noch hätte helfen können. Mit der Zeit wird Misaki ihre eigenen Ansichten dazu kundtun und schließlich auch von ihrer eigenen dramatischen Lebensgeschichte erzählen, die eine schizophrene Mutter und ein von einem Erdrutsch verschüttetes Elternhaus auf der verschneiten Insel Hokkaido beinhaltet.

So arbeitet der Film langsam, aber beharrlich an der Idee, dass man sich anderen Menschen öffnen und die eigenen Verletzungen zugeben können sollte. Immer bloß stur weitermachen und so tun, als sei nichts, – das führt ins Unglück. Otos Drehbuchentwurf (von dem Yûsuke erst spät die bezeichnende zweite Hälfte kennenlernt) und Tschechows „Onkel Wanja“ dienen dabei als warnende Beispiele. Es ist Zeit für Veränderung.

Japan 2021; 179 Min; R: Ryûsuke Hamaguchi; D: Hidetoshi Nishijima, Tôko Miura, Reika Kirishima, Yoo-rim Park; Kinostart: 23.12.


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