Hazal, 17 Jahre alt, aus dem Wedding: Das Coming-of-Age Drama „Ellbogen“ erzählt ihre Geschichte. Der Film, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Fatma Aydemir, feierte bei der Berlinale Premiere. Am 5. September kommt er ins Kino. tipBerlin-Filmredakteurin Marit Blossey sprach mit Regisseurin Aslı Özarslan, Fatma Aydemir und Hauptdarstellerin Melia Kara über Straßencastings, Narrative von Migration und Gewalt und die Zukunft des deutschen Kinos.
„Ellbogen“-Hauptdarstellerin Melia Kara: „Ich verstehe den Druck, der auf Hazal lastet“
Hazal ist wütend. Zu viele Türen bleiben der Protagonistin in Aslı Özarslans Coming-of-Age-Drama „Ellbogen“ verschlossen: Morgens steckt sie ohne Perspektive in einem Kurs zur Berufsvorbereitung, mittags jobbt sie lustlos in der Bäckerei ihres Onkels, abends wird sie mit ihren Freundinnen an der Clubtür abgewiesen. Frustriert ziehen die Mädchen weiter, und was eine Party anlässlich Hazals 18. Geburtstags werden sollte, nimmt eine dramatische Wendung, als sich ihre ganze aufgestaute Wut in einer U-Bahn-Station entlädt. Kurz darauf findet Hazal sich in Istanbul wieder. Flucht – oder ein Befreiungsschlag?
„Ellbogen“ feierte bei der Berlinale in der Sektion Generation 14plus Premiere. Wir haben Regisseurin Aslı Özarslan, Romanautorin Fatma Aydemir und Hauptdarstellerin Melia Kara bereits vor der Premiere im Februar zum Gespräch getroffen.
Coming-of-Age in Berlin-Wedding
tipBerlin Frau Özarslan, Sie kommen vom Dokumentarfilm, „Ellbogen“ ist Ihr erstes Feature. Wie kamen Sie zu dem Stoff?
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Aslı Özarslan Ich hatte gerade die Arbeit an meinem Dokumentarfilm „Dil Leyla“ beendet und stand in einem Buchladen. Dort blickte mich vom Cover eine selbstbewusste junge Frau an. Ich las den Titel: „Ellbogen“, und dann auch noch den Namen einer deutsch-türkischen Schriftstellerin. Das hat mich direkt interessiert. Also habe ich das Buch gelesen, und es hat mich einfach nicht losgelassen. Bisher war es bei all meinen Filmen so, dass ich, wenn ich meine Protagonistin gesehen habe, ganz tief im Bauch gespürt habe: Darüber muss ich etwas machen. Ich habe mich dann ganz naiv bei Fatma gemeldet und dachte, dass die Filmrechte sicher schon vergeben sind. Es gab tatsächlich schon einige Interessenten, aber Fatma sagte: Ich habe deinen Film gesehen, der hat mir wahnsinnig gut gefallen. Schon allein deshalb möchte ich dich treffen.
Fatma Aydemir Ich war überrascht, dass es damals schon viel Interesse an den Filmrechten gab, bevor der Roman überhaupt rauskam. Das hat mich natürlich gefreut, aber tatsächlich hat es mir auch ein bisschen Angst gemacht, weil es eine bestimmte Art von kommerziellen Filmen gibt, mit der ich so gar nichts anfangen kann. Es war ein Zufall, dass ich Aslıs Film gerade gesehen hatte und mir deshalb sowohl ihr Name als auch ihr Film noch sehr präsent waren.
Aslı Özarslan Wir haben uns dann getroffen und ich habe Fatma von meiner Idee erzählt, dass ich die Hauptfigur Hazal und ihre Freundinnen mit Laien besetzen möchte. Jeder Film hat seine eigene Herangehensweise und das erschien mir das Beste für dieses Projekt. Mir war es wichtig, diese ambivalente Figur mit der Protagonistin zusammen zu erzählen, nicht über sie.
Fatma Aydemir Aslıs Idee hat mich überzeugt: Die Hauptfigur Hazal mit einer Laiendarstellerin zu besetzen, fühlte sich richtig an. Natürlich birgt das wieder andere Risiken, aber für mich war es sehr ausschlaggebend.
Wie lassen sich Geschichten über migrantische Lebensrealitäten in Deutschland erzählen, ohne die Figuren zu exotisieren?
tipBerlin Sie haben in Berlin nach Darsteller:innen gesucht und mit Melia Kara die Besetzung für die Hauptrolle der Hazal gefunden. Wie lief der Casting-Prozess für Sie ab, Frau Kara?
Melia Kara Ich wurde wirklich von der Straße gecastet, als ich mit Freundinnen unterwegs war. Ich habe mich dann gemeldet und bekam eine Einladung zum E-Casting, da habe ich zwei Videos eingesandt und dann erstmal sechs Monate gar nichts gehört. Ich dachte: Okay, das war nichts, und hatte es auch irgendwann nicht mehr im Kopf. Dann kam die E-Mail: Du bist in der nächsten Runde und es ist ein Live-Casting. Ich hatte das vorher noch nie gemacht, es war super aufregend! Irgendwann hieß es, das ist jetzt das letzte Casting, wirklich. Ich glaube, eine Woche später habe ich einen Anruf von Aslı bekommen. Ich war gerade bei der Arbeit, und sie sagte: „Ich will dich gar nicht stören, ich hab nur eine kurze Frage: Nimmst du die Rolle an?“ In meinem Kopf hat es gerattert: Was, was, wirklich? Bei mir kribbelt direkt wieder alles vor Aufregung, wenn ich daran denke.
tipBerlin Kannten Sie den Roman vorher?
Melia Kara Nein. Aber ich habe das Buch dann mehrfach gelesen und fand es super. Es ist so authentisch geschrieben und nimmt kein Blatt vor dem Mund, alles ist so greifbar.
Es gab Momente, in denen ich Hazal bemitleidet habe, und Momente, in denen ich sie unglaublich stark fand. Da dachte ich: Das könnte ich nie und nimmer, ich wäre schon zehnmal zusammengebrochen.
Melia Kara
tipBerlin Was haben Sie selbst für eine Beziehung zu Hazal?
Melia Kara Ich bin hin- und hergerissen: Es gab Momente, in denen ich Hazal bemitleidet habe, und Momente, in denen ich sie unglaublich stark fand. Da dachte ich: Das könnte ich nie und nimmer, ich wäre schon zehnmal zusammengebrochen. Und dann gab es auch Momente, in denen ich dachte: Oh Hazal, stell dich doch nicht so an. Sie ist manchmal sehr trotzig. Natürlich strahlt sie dadurch auch Stärke aus, aber manchmal sollte sie ein bisschen mehr Hilfe annehmen. Wenn sie ihre harte Schale ein bisschen ablegen würde, dann könnte sie viel weiter kommen, denke ich.
Aslı Özarslan Total. Aber dieses Privileg hat sie eben nicht immer.
Verzicht auf Klischees: Mit den Jugendlichen erzählen, statt über sie
tipBerlin Können Sie nachvollziehen, woher das kommt, dieser Trotz, diese Wut, die Hazal hat?
Melia Kara Da spielen so viele Komponenten mit rein. Ich verstehe den Druck, der auf ihr lastet und die Familiendynamik, in der sie lebt. Sie ist so jung, rutscht durchs komplette System und keiner fängt sie auf. Natürlich fühlt man sich da hilflos. Sie hat nicht viel Spielraum, mal einen Schritt zurückzutreten und nachzudenken. Sie ist eigentlich die ganze Zeit in einem „fight or flight“-Modus.
tipBerlin Sie sind selbst in Berlin aufgewachsen. Konnten Sie sich mit Hazals Lebensrealität im Wedding identifizieren?
Melia Kara Ich war in meinem Leben selten im Wedding, ich komme aus Neukölln. Aber von dem, was ich gehört habe, soll es relativ ähnlich sein. Wobei ich sagen würde, dass Neukölln ein bisschen cooler ist (lacht).
Aslı Özarslan Ich habe mich aus Prinzip dagegen entschieden, den Fokus darauf zu legen, das Milieu im Wedding als solches darzustellen. Ich wollte lieber Bilder zeigen, die man so vielleicht noch nicht gesehen hat. In erster Linie geht es um Hazal. Das ist das Wichtigste.
tipBerlin Frau Özarslan, haben Sie die Dialoge also zum Teil auch mit den Darsteller:innen gemeinsam erarbeitet?
Aslı Özarslan Die Dialoge an sich waren gesetzt, aber trotzdem konnten die Darsteller:innen sich innerhalb dessen einbringen. Das ist ganz organisch passiert. Mit Melia und den anderen jungen Darstellerinnen haben wir lange geprobt: So waren sie in jeder Szene sicher und konnten ihre Ideen einfließen lassen. Dadurch entsteht eben keine Exotisierung, weil ich mit den jungen Leuten auf Augenhöhe erzählen konnte. Deshalb sind wir auch so nah an Hazal dran.
tipBerlin Vielleicht schafft es das deutsche Kino ja auf diese Weise auch mal, neue Zielgruppen zu erreichen und alte Ordnungen aufzubrechen.
Melia Kara Das ist der Traum!
tipBerlin Hazal ist in jeder Szene zu sehen, wir erleben die Handlung durch ihre Augen. Frau Özarslan, warum war Frau Kara die richtige Besetzung für die Rolle?
Aslı Özarslan Beim Schreiben des Drehbuchs war das die größte Herausforderung: Im Roman erleben wir alles aus Hazals Perspektive. Das mussten wir in Bilder übersetzen. Ich glaube, was mich an Melia fasziniert hat, als ich sie das erste Mal vor der Kamera gesehen habe, war so eine innere Wut, die in ihr gebrodelt hat. Hazal ist eine sehr ambivalente Figur und es war mir unglaublich wichtig, das zeigen zu können. Weil sie in jeder einzelnen Szene zu sehen ist, sollte sie auch etwas Geheimnisvolles haben, damit man sich als Zuschauer:in nicht langweilt. So ist es auch im Roman: Man bleibt die ganze Zeit ganz nah an ihr dran, will mehr wissen, kommt an sie heran und dann doch wieder nicht. Das hat Melia mir schon beim ersten Casting gezeigt. Deshalb hat sie aus Hazal im Endeffekt die Hazal gemacht, die es jetzt geworden ist.
Menschen, die vielleicht einen ähnlichen Background haben wie Hazal, sollen mit dieser Geschichte etwas anfangen können
tipBerlin Diese Ambivalenz, von der Sie sprechen, zeichnet die Figur auch im Roman aus. Frau Aydemir, wer ist Hazal für Sie?
Fatma Aydemir Hazal war für mich immer wie eine beste Freundin und gleichzeitig jemand, den ich hasse. Genau deshalb ist sie so eine tolle Figur, an der man sich abarbeiten kann. Ich hatte beim Schreiben kein bestimmtes Publikum vor meinem inneren Auge, am liebsten will ich natürlich alle erreichen. Aber mein Wunsch war schon, dass Leute, die vielleicht einen ähnlichen Background haben wie Hazal, etwas mit dieser Geschichte anfangen können. Gleichzeitig besteht die Mehrheit des Publikums, das in Deutschland Romane kauft, eher aus weißen Frauen um die 50. Mir war deshalb wichtig, dass ich diese Figur ehrlich gestalte, ohne sie den Leuten zum Fraß vorzuwerfen. Gerade wenn man migrantische Geschichten oder Geschichten aus einer bestimmten Klasse erzählt, bekommt es schnell etwas Voyeuristisches. Ich war deshalb in vielen Streitgesprächen mit mir selbst, und am Ende ging es immer darum: Wie werde ich dieser Figur gerecht? Wie kann sie in all ihrer Ambivalenz und Komplexität in dieser Geschichte bestehen? Wie schaffe ich es, sie aus den Zwängen zu befreien, in denen sie steckt?
Gerade wenn man migrantische Geschichten oder Geschichten aus einer bestimmten Klasse erzählt, bekommt es schnell etwas Voyeuristisches. Am Ende ging es immer darum: Wie werde ich dieser Figur gerecht? Wie kann sie in all ihrer Ambivalenz und Komplexität in dieser Geschichte bestehen?
Fatma Aydemir
tipBerlin Ein Wendepunkt in Ellbogen ist eine krasse Gewaltszene: Am Abend von Hazals 18. Geburtstag gerät sie mit ihren Freundinnen in einer U-Bahn-Station in eine Schlägerei, die dramatisch endet. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Fatma Aydemir Es gab diese Zeit, in der U-Bahn-Schlägereien in den Nachrichten sehr präsent waren. Ich weiß gar nicht, ob sie damals so viel häufiger vorgekommen sind als heute, oder ob das Thema einfach krass überrepräsentiert war. Ich fand das natürlich beängstigend und erschreckend, aber gleichzeitig werden solche Geschichten auch immer wieder als Vorwand genutzt, um das Narrativ weiter zu stricken, dass Migration und Gewalt im öffentlichen Raum irgendwie zusammenhängen. Als wäre diese Gewalt importiert und die deutsche Gesellschaft an sich gewaltfrei. Solche Widersprüchlichkeiten, die mit dem, ich nenne es mal „Medienphänomen“ der U-Bahn-Schlägerei zusammenhängen, haben mich schon lange beschäftigt. Die U-Bahn-Gewalteskalation ist deshalb auch ein Stück Zeitgeschichte.
Von Berlin nach Istanbul: Politisch Verfolgte in Erdoğans Türkei
tipBerlin Frau Kara, gibt es eine Szene, die Ihnen vom Dreh besonders in Erinnerung geblieben ist?
Melia Kara Ich habe eine absolute Lieblingsszene. Da war ich so emotional, dass ich gar nicht mehr gemerkt habe, dass ich in einem Film spiele. Es hat sich so angefühlt, als ob mir das gerade selbst passiert. Das ist die Szene, in der wir vor einer Bar in Istanbul sitzen und Mehmet kurz verschwindet. Dann läuft ein wunderschöner Song, der wirklich live gesungen wurde, während wir gedreht haben. Ich habe die Kamera irgendwann gar nicht mehr gesehen, es war nachts, über uns hingen bunte Regenschirme. Irgendwann kommt Mehmet zurück und überreicht Hazal eine einzelne Rose. In meinem Kopf war das ein totaler Bruchmoment, in dem sie gemerkt hat: Vielleicht ist das hier nicht das Leben, das sie sich erhofft hat. Diesen Dreh habe ich auf jeden Fall sehr stark in Erinnerung. Aber auch alle Szenen, die ich mit den anderen Mädels drehen durfte. Das hat immer viel Spaß gemacht.
tipBerlin Es gibt zum Beispiel eine ausgelassene Partyszene, es wird getrunken und es läuft „Von Party zu Party“ von SXTN. Haben Sie die Musik selbst ausgewählt?
Aslı Özarslan Ich habe zu den Mädchen gesagt: Sucht euch doch mal einen Song aus, bei dem ihr denkt, dass ihr euch damit verbunden fühlt und Bock habt, dazu richtig Party zu machen. So haben wir entschieden, genau diesen Song für diese markante Szene zu nehmen, und ich selbst dachte: Ach, cool, der hat immer noch nicht an Aktualität verloren.
Melia Kara Ja, das hat perfekt gepasst. Der Song hat einfach dieses Motzige und Freche. Er ist immer noch cool.
Fatma Aydemir: „Mir war von Anfang an am wichtigsten, dass wir Hazal glauben“
tipBerlin Nun feiert der Film auf der Berlinale seine Premiere. Was ist es für ein Gefühl?
Melia Kara Ich versuche, keine großen Erwartungen zu haben, dann kann ich auch nicht enttäuscht werden. Am wichtigsten ist, dass solche Geschichten auch mal erzählt werden. Selbst wenn jetzt wirklich etwas Großes daraus werden sollte – das ist immer noch das Coolste daran.
Aslı Özarslan Mit der Berlinale erfüllt sich für mich ein Traum, weil es eben auch eine Berlin-Geschichte ist. Außerdem ist die Berlinale ein sehr publikumsstarkes Festival und jede Regisseurin wünscht sich natürlich, dass viele, viele Menschen ihren Film sehen werden. Darauf freue ich mich wahnsinnig.
Fatma Aydemir Ich freue mich total, weil ich den Film schon gesehen habe und weiß, dass er toll ist. Ich sehe die Geschichte, die ich geschrieben habe, in diesem Film, und gleichzeitig sehe ich auch etwas Eigenes darin. Das ist perfekt für eine Adaption, finde ich. Und ich sehe auch den Input, den nicht nur Aslı und Claudia [Claudia Schaefer, Anm. d. Red.] als Drehbuchautorinnen gegeben haben, sondern auch Melia in der Art und Weise, wie sie Hazal verkörpert. Denn das war mir von Anfang an am wichtigsten: dass wir Hazal glauben. Und das ist meiner Meinung nach auf jeden Fall gelungen. Insofern ist es für mich ab jetzt nur noch Party.
Das Gespräch wurde am 12.1.2024 in Berlin geführt.
- Ellbogen Deutschland/ Frankreich/ Türkei 2024; 86 Min.; R: Aslı Özarslan D: Claudia Schaefer, Aslı Özarslan; Kinostart: 5.9.
- Den Trailer für „Ellbogen“ seht ihr hier
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