Das Marvel Cinematic Universe befindet sich gerade in Phase 4, von der nun Film 4 erscheint: „Spider-Man: No Way Home“ von Jon Watts springt mit Doctor Strange ins Multiversum. Außerdem startet in dieser Woche das höchst eigentümliche, aber sehr sehenswerte Musical „Annette“, für das sich der französische Kino-Exzentriker Leos Carax mit der Band Sparks zusammengetan hat. Dazu eine Komödie aus Serbien („Der Schein trügt“) und ein Selbstfindungsdrama („Monte Verità – Der Rausch der Freiheit“)
Spider-Man: No Way Home
ACTION Den Superhelden Spider-Man gibt es in vielen Gestalten: Tobey Maguire und Andrew Garfield haben ihn einmal gespielt, im Marvel Cinematic Universe wird er seit einer Weile von Tom Holland verkörpert. In einem parallelen Trickfilm-Spiderverse gibt es ihn sogar noch mit einer anderen privaten Identität, da heißt er im bürgerlichen Leben nicht Peter Parker, sondern Miles Morales. Der neue Marvel-Film „Spider-Man: No Way Home“ von Jon Watts sorgt in dem ganzen Durcheinander nun für ein bisschen Ordnung, mit einer sehr guten Pointe, die hier nicht verraten werden soll.
Peter Parker ist ja seit dem vorangegangenen Film „Spider-Man: Far from Home“ enttarnt, alle Welt weiß, dass er der Fassadenkletterer im Spinnenmannkostüm ist. Das erschwert nun seine Bemühungen um einen guten College-Platz, wie auch für sein Team, die Freundin MJ und den Buddy Ned. Er wendet sich an Doctor Strange (Benedict Cumberbatch), der dafür sorgen soll, dass die Welt die Enthüllung von Peters Superheldentum vergisst. Das Gegenteil tritt ein. Spider-Man ist der beliebteste Comic-Held im Marvel-Universum, das wundert ein bisschen, denn es fehlt ihm eigentlich ein bisschen Kontur. In diesem Abenteuer bewährt er sich aber ganz gut als perfekte Identifikationsfigur für Teenager mit moralischem Kompass. Bert Rebhandl
USA 2021; 148 Min.; R: Jon Watts; D: Tom Holland, Zendaya, Jacob Batalon, Benedict Cumberbatch, Willem Dafoe; Kinostart: 16.12.
Annette
FILMKUNST Eine düstere Pop-Oper, geschrieben von Russell und Ron Mael von der Art-Rock-Band Sparks. Adam Driver als fieser Stand-Up-Comedian Henry und Marion Cotillard als Opernsängerin Ann spielen die Hauptrollen in diesem anspielungsreichen Musical, in dem es um Operndramaturgie, Publikumserwartungen, Massenmedien, toxische Männlichkeit, #metoo-Erfahrungen, aufziehende Stürme und biografische Bezüge zum Leben von Regisseur Leos Carax und seiner Tochter Nastya geht. Und natürlich um das singende (Marionetten-) Baby Annette, die Tochter von Henry und Ann. Lars Penning
F/B/D 2021; 141 Min.; R: Leos Carax; D: Adam Driver, Marion Cotillard, Simon Helberg; Kinostart: 16.12.
Die ausführliche tipBerlin-Filmkritik zu „Annette“ findet sich hier.
Der Schein trügt
SATIRE Stojan ist ein guter Kerl. Für einen Heiligen würde man ihn nicht halten, er will nur seine Ruhe haben und niemand etwas Böses. Eines Tages aber taucht über seinem Kopf etwas auf, das ihn unübersehbar auszeichnet: ein leuchtender Kreis, eine Art Neonring. Man kann es nicht anders sagen: Stojan trägt nun einen Heiligenschein. Anfangs versucht er, das noch mit einer Pelzmütze zu kaschieren, aber das fällt auch auf im Sommer. Als er sich schließlich outet, weiß ein Wunderheiler gleich Rat. Ein paar schöne Sünden, und er wäre das Ding wieder los.
Das erweist sich aber als Irrtum. Denn Regisseur Srdjan Dragojevic hat mit seiner schrägen Idee Großes vor. Sein Film „Der Schein trügt“ („Nebesa“) überbrückt schließlich einmal die postkommunistische Epoche, ausgehend von dem Krieg in Jugoslawien Anfang der 90er Jahre. Die Geschichte schlägt ein paar prächtige Haken, 25 Jahre später sieht es für einen Moment so aus, als hätte ausgerechnet die Malerei ein Goldenes Zeitalter ausgelöst, na ja, eher die Kreativindustrie, wie es an einer Stelle anzüglich heißt.
Ob die Kunst nun nahrhaft ist oder eher berauschend: „Der Schein trügt“ ist eine deftige Satire auf moralische Korruption, auf religiösen Ernst und lächerlichen Aberglauben. Srdjan Dragojevic wurde 2011 mit „Parada“ weltweit bekannt, einer Komödie über die Widerstände gegen LGBTQ-Engagement in Serbien. Mit „Der Schein trügt“ stellt er nun der Entwicklung in seiner Heimatregion ein bitterböses Zeugnis aus. Selbst ein guter Kerl wie Stojan kann komplett die moralische Orientierung verlieren, wenn alle auf falsche Erleuchtungen setzen. Bert Rebhandl
Serbien 2021; 120 Min.; R: Srdjan Dragojevic; D: Goran Navojec, Ksenija Marinkovic, Bojan Navojec; Kinostart: 16.12.
Mont Verità – Der Rausch der Freiheit
DRAMA „Gib dem Berg ein bisschen Zeit. Lass ihn auf dich wirken“, legt man Hanna Leitner (Maresi Riegner) ans Herz, als sie den Monte Verità schon wieder verlassen will. Dabei hatte sich die Reise bis hierhin als durchaus schwierig gestaltet: Vom Ehegatten Anton wiederholt zum Geschlechtsakt genötigt, entwischt sie ihm unter dem Vorwand, er solle sich zuvor noch etwas säubern. Zurück lässt Hanna die beiden geliebten Töchter. Ein hoher Preis für die Wiener Bürgersfrau, doch der Drang nach Freiheit ist groß, die häusliche Pein immens. Und der berühmte Hügel im Süden der Schweiz verspricht eine Alternative zum domestizierten Dasein, das Leitner buchstäblich die Luft abschnürt. Hier tanzt man auch mal nackt um ein Feuer, ernährt sich fleischlos, ist ganz Mensch.
Hannas in Österreich diagnostizierte „Genitalneurose“ juckt hier jedenfalls niemanden, im Gegenteil, die Gründerin des alternativen Siedlungsprojekts, Ida Hofmann (Julia Jentzsch), bestärkt die junge Mutter sogar darin, ihren Neigungen nachzugehen. Letztere bestehen zum einen in der Leidenschaft zur Fotografie, welche gerade Anton, selbst Fotograf, stets belächelt hatte. Zum anderen aber auch in der Anziehung durch den Psychoanalytiker Otto Gross (Max Hubacher), einem Morphium-Süchtigen.
Anstrengungen der Gefühle: „Monte Verità – Der Rausch der Freiheit“
Inmitten solch illustrer Gäste wie Hermann Hesse oder der Tänzerin Isadora Duncan kehrt in die Ausreißerin ein, wenn auch fragiler, Esprit zurück. Denn die vorgefundene Libertinage schwindelt sie auch, Otto wendet seine therapeutischen Methoden genauso bei anderen Besucherinnen an („Soll das heißen, dass du auch mit anderen Patientinnen schläfst?“), und die mysteriöse Lotte Hattemer (Hannah Herzsprung), Tochter des Berliner Bürgermeisters, mit der sie eine besondere Verbindung eingeht, steht dem Tod näher als dem Leben. Ja, der Alltag auf dem sogenannten „Wahrheitsberg“ ist voll „gefühlsbedingter Anstrengungen“, welche Hanna doch eigentlich vermeiden sollte.
Regisseur Stefan Jäger gestaltet derlei Aufs und Abs leicht lesbar und eindeutig. Künstlerische Ausdruckskraft drängt sich lediglich anhand pseudohistorischer Fotografien in die Erzählung, die, jeder Statik beraubt, für Zwanglosigkeit und Bewegungsfreiheit stehen möchten. Dabei ist nichts in der Inszenierung dieses Films zwanglos, frei. Kaum eine Szene, die Raum hätte, sich zu entfalten. Im Grunde möchte man jenen Tipp, wie ihn Hanna Leitner zu Beginn auf dem Monte Verità erhalten hat, umgehend zurückspielen: „Gib dem Berg ein bisschen Zeit. Lass ihn auf dich wirken.“ Carolin Weidner
CH/A/D 2021, 116 Min.; R: Stefan Jäger; D: Maresi Riegner, Max Hubacher, Julia Jentsch; KInostart: 16.12.
Die Filmstarts der Vorwoche, mit „West Side Story“ von Steven Spielberg, haben wir hier; dazu einen Hinweis auf das temporäre Kino im ehemaligen Flughafen Tempelhof; mit dem Schauspieler Florian Lukas haben wir über die Serie „Die Wespe“ gesprochen; alles zu Kino und Stream hier im Überblick