Am vorletzten Tag des Jahres starten nur wenige Filme: Aus Dänemark kommt mit „Die Königin des Nordens“ von Charlotte Sieling ein Mittelalterdrama, das sich neben „The Last Duel“ von Ridley Scott (einem unserer Lieblingsfilme in diesem Jahr) durchaus sehen lassen kann; und aus Italien kommt mit „Moleküle der Erinnerung“ von Andrea Segre ein Dokumentarfilm über Venedig. Ausnahmsweise also ein bisschen kürzer, aber auch diese Woche wie gewohnt der tipBerlin-Überblick über die Filmstarts der Woche
Die Königin des Nordens
HISTORIENFILM An der Wende von 14. zum 15. Jahrhundert fand im Norden Europas ein kleines „Game of Thrones“ statt, bei dem eine starke Frau im Mittelpunkt stand: die Königin Margarethe. Sie brachte zwischen Dänemark, Schweden und Norwegen eine Union zustande, die sich allerdings im Mächtespiel auf dem Kontinent nur durch weitere Bündnisse behaupten konnte. In dem Kostüm- und Historienfilm „Königin des Nordens“ ist der Deutsche Orden der gefährlichste Feind, während England durch Heiratspolitik zum Partner gemacht werden soll. Margarethe herrscht gemeinsam mit dem Thronfolger Erik, der allerdings nicht ihr leiblicher Sohn ist. Sie hat ihn aus Pommern adoptiert. Das Drama nimmt seinen Lauf, als in einem kritischen Moment ein junger Mann auftaucht, der behauptet, er wäre der richtige Sohn von Margarethe. Sie hatte immer geglaubt, Oluf wäre schon lange tot. Nun stellt sie fest, dass sie als Mutter eine Verantwortung hat, die nicht immer zu der als Königin passt.
Trine Dyrholm ist seit Thomas Vinterbergs „Das Fest“ eine der bekanntesten dänischen Schauspielerinnen. Sie ist somit die ideale Besetzung für die Identifikationsfigur, die sie in „Königin des Nordens“ spielen muss. Margarethe ist ein positives Vorbild, eine kluge Realpolitikerin, die zwischen Kirche und Adel einen guten Ausgleich schafft. So richtig spannend wird es allerdings erst dadurch, dass sie es mit einem Konflikt zu tun bekommt, der tragische Ausmaße hat. Das kluge Drehbuch, mit dem die Regisseurin Charlotte Sieling arbeiten konnte, führt tief in die Mechanismen der Macht: Kammerdienerinnen, die auch als Spionnen dienen; ein Priester in einer zutiefst zwiespältigen Schlüsselrolle; geheime Boten und einsame Momente auf einem Schloss mit Blick auf das Meer.
Margarethe muss sich letztendlich zwischen Familie und Staat entscheiden, und implizit zwischen ihrer Rolle als Frau und Mutter und als Herrscherin, die sich gegen Männer und ihre alten Rechte bewähren muss. „Königin des Nordens“ kommt nicht von ungefähr aus dem geschlechterpolitisch schon lange progressiven Skandinavien. Margarethe wird aber als Kinofigur erst dadurch interessant, dass sie nicht einfach aufklärerisch und weise das Gute tut, sondern dass sie vor schreckliche Entscheidungen gestellt wird. Der Begriff einer „starken Frau“ wird am Ende durch einen messerscharfen Dialog ganz neu beleuchtet. Bert Rebhandl
Dänemark/Schweden/Norwegen 2021; 120 Min.; R: Charlotte Siering; D: Tryne Dierholm, Morten Hee Andersen, Soren Malling; Kinostart: 30.12.
Moleküle der Erinnerung – Venedig, wie es niemand kennt
DOKU Der Vater habe ja nie viel geredet, so der Filmemacher, er sei eben so gewesen, verschlossen, unnahbar. Daraus resultierte, dass das Verhältnis zwischen Vater und Sohn nie so innig war, wie der Sohn sich das gewünscht hatte. Und nun, selbst Vater geworden, unternimmt der Sohn Andrea Segre, das, was Filmemacher in einem solchen Fall eben zu unternehmen pflegen: Er dreht einen autobiografisch motivierten Film, um das Versäumte irgendwie zu kompensieren. Zu diesem Behufe macht er sich auf in des Vaters Heimatstadt Venedig, um am Ort des väterlichen Aufwachsens dessen Wesen zu ergründen. Soweit so absehbar: Es drohen Nabelbeschau, Gefühligkeit und allerlei Selbstreflexion.
Doch die Dreharbeiten finden im Februar und März 2020 statt, und wir alle wissen nur zu genau, was zu jener Zeit die Weltherrschaft an sich riss – also auch die über Venedig, den berühmt-berüchtigten Touristen-Hotspot. Plötzlich aber ist die Lagunenstadt beinahe menschenleer und keine Gondel, kein Boot, und schon gar kein Kreuzfahrtschiff stellt sich der Begegnung mit dem Genius loci in den Weg. Mit einem Male wird das Leben an diesem Ort des Dazwischen – nicht eindeutig dem Land, aber auch nicht ganz dem Wasser zuzuschlagen – vorstellbar als eine ganz besondere und faszinierende Daseinsweise.
Wäre da nur nicht Segres Voiceover, das den so erstaunlichen und raren Bildern des von Schaulustigen befreiten, jahrhundertealten Pfahlbaus eine subjektive Agenda aufzwingt. Und mit einem banalen Manöver die für einige wenige Tage nur sichtbare Schönheit des endlich befreiten Ortes neuerlich einsperrt. Alexandra Seitz
Italien 2020; 68 Min.; R: Andrea Segre; Kinostart: 30.12.
Die Filmstarts aus der Weihnachtswoche sind fast alle noch im Kino zu finden, sicher gilt das auf jeden Fall für „Matrix Resurrections“; zum Jahreswechsel hat die tipBerlin-Filmredaktion zwölf herausragende Filme aus 2021 zusammengestellt; zu dem sehr beliebten temporären THC Cinema im Ex-Flughafen Tempelhof haben wir hier einen Hinweis; und falls ihr lieber Serien schaut, zum Beispiel „Die Wespe“ auf Sky, könnte euch unser Interview mit Florian Lukas interessieren.