Die Filme der Woche. Diese Woche macht sich wieder einmal ein Marvel-Blockbuster breit: „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ von Sam Raimi streckt die Fühler in viele verschiedene Richtungen aus. Im Vergleich dazu hat „Memoria“ von Apichatpong Weerasethakul eine durchaus ähnliche Idee, setzt sie aber im kolumbianischen Dschungel ungleich ruhiger um. Diese und weitere Filmstarts der Woche im gewohnten tipBerlin-Überblick
Doctor Strange in the Multiverse of Madness
ACTION So viele Dimensionen kann die Wirklichkeit gar nicht haben, dass sie am Ende nicht doch immer ein bisschen wie eine Stadt im Wilden Westen aussieht oder zumindest danach klingt. In dem neuen Marvel-Spektakel „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ landen die Helden an einer Stelle in einem Bereich, an dem die verschiedenen Paralleluniversen zusammenhängen. Er wird als „gap junction“ bezeichnet, da sucht man fast unwillkürlich nach angeschirrten Pferden vor einem Saloon oder einem krummbeiningen Revolverhelden, der auf einen Schießpartner wartet. In diesem Film aber ist Gap Junction einfach ein Bereich im Weltraum, in dem Wirklichkeitsreste wild durcheinander laufen, so ein bisschen wie in einer Resterampe von Computerspielen.
Der Held, gespielt von Benedict Cumberbatch, geht mit einer großen Frage durch den Film: „Bist du glücklich?“ Wenn er ehrlich ist, dann ist er nicht wirklich glücklich, schließlich heiratet seine Herzensdame Christine (Rachel McAdams) zu Beginn einen anderen. Um sich als der bessere Kandidat zu erweisen, muss Doctor Strange nun einen ziemlichen Umweg nehmen, nämlich durch das Multiversum, in dem es ungezählte Versionen von ihm gibt, manche eher sinister, manche mehr zum Knuddeln. Als Gegnerin tut sich da vor allem Wanda Maximoff hervor, mit der Marvel zu verstehen gibt, dass man sich besser die Serie „WandaVision“ auf Disney+ anschauen sollte, bevor man viel Geld für Popcorn und „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ im Kino ausgibt.
Die Kassen klingeln in allen Dimensionen: „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ von Sam Raimi
Regisseur Sam Raimi hat 2002 die Spider-Man-Figur so für das Kino wiederbelebt, dass man seine Version mit Tobey Maguire in der Hauptrolle heute als richtungsweisend für das neuere Superheldenkino betrachtet. Mit „Doctor Strange“ gelingt ihm das nicht ganz so gut: Das Abenteuer fetzt zwar pflichtschuldig durch allerlei Getöse, unterstützt von Danny Elfmans anfeuernder Musik. Aber trotz des Aufmarsches verschiedener Überraschungsgäste wird man den Eindruck einer Insiderveranstaltung nie los. Marvel bastelt so intensiv an seiner Mythologie, dass dabei ganz darauf vergessen wird, was denn eigentlich der Punkt eines allgemeineren Interesses sein könnte – außer, dass bei Disney in allen Dimensionen die Kassen klingeln. Bert Rebhandl
USA 2022; 130 Min.; R: Sam Raimi; D: Benedict Cumberbatch, Elizabeth Olsen, Rachel McAdams, Xochitl Gomez; Kinostart: 5.5.
Memoria
FILMKUNST Der neue Film von Apichatpong Weerasethakul beginnt mit einem Knall. Jessica, eine schottische Botanikerin zu Besuch in Kolumbien, liegt morgens noch im Halbdunkel im Bett, da schrickt sie auf. War das ein Schuss? Eine Explosion? Irgendwo in der Stadt? Oder ganz in der Nähe? Ein „Rumpeln aus dem Innersten der Erde“, so versucht sie später zu beschreiben, was sie gehört hat, und was vielleicht nur eine akustische Halluzination ist. Denn später sitzt sie einmal mit Begleitung in einem Restaurant, und da hört sie wieder den Knall, rundherum aber scheint niemand etwas zu bemerken. Jessica (Tilda Swinton) aber geht dieser Erfahrung nach. Sie schließt Freundschaft mit einem jungen Tontechniker namens Hernan, der ihr helfen soll, aus einem Archiv von Klängen den richtigen herauszufiltern. Sie trifft auch auf eine Archäologin namens Agnès (Jeanne Balibar), die menschliche Überreste untersucht, die beim Bau eines Tunnels entdeckt wurden. Und sie besucht ab und zu ihre Schwester Karen, die in einem Krankenhaus liegt, aus Gründen, die nicht ganz klar werden.
Im Universum des thailändischen Filmkünstlers Apichatpong Weerasethakul gehört es zu den Naturgesetzen, dass die normalen nicht gelten. Vorher und nachher, Außenwelt und Innenwelt, subjektiv und objektiv verschwimmen bei ihm. Auf diese Weise hat er einige der schönsten und aufregendsten erzählerischen Meditationen im Weltkino gestaltet (zuletzt „Cemetery of Splendour“, 2015). Mit „Memoria“ hat er sich nun einen langjährigen Traum erfüllt und einen Science-Fiction-Film in einem fremden Land gemacht. Das Genre-Element wird zwar erst am Ende einigermaßen eingelöst (mit einer ebenso lakonischen wie spektakulären Szene), man begreift mit „Memoria“ aber ohnehin nur, dass Science-Fiction für Apichatpong Weerasethakul eine Art höhere Geisterkunde ist. Er hat sich immer schon für das Nachleben von traumatischen Erfahrungen interessiert, für die eigentümlichen Zustände, in die man im Dschungel geraten kann.
So ergeht es nun auch Jessica, die wir als Stellvertreterin eines westlichen Kinopublikums in der magischen Realität von Apichatpong Weerasethakul sehen können. Sie dringt tiefer in die kolumbianische Landschaft ein, und findet eine Seelenlandschaft. „Memoria“ ist ein Film, der manchmal Gefahr läuft, sich in kapriziösen Ideen zu verloren, doch dann tauchen neue, überraschenden Akzente auf, und wenn man ein wenig Geduld mitbringt, wird man mit einem philosophischen Denkstück belohnt, wie das Kino nur selten eines hervorbringt. Bert Rebhandl
Kolumbien 2021; 136 Min.; R: Apichatpong Weerasethakul; D: Tilda Swinton, Elkin Diaz, Jeanne Balibar; Kinostart: 5.5.
Sun Children
DRAMA In der iranischen Hauptstadt Teheran macht eine kleine Bande die Straßen unsicher. Mit mehr oder weniger legalen Jobs versuchen die 10- bis 12-jährigen Kinder, sich und ihre Familien (so sie denn noch eine haben) über Wasser zu halten. Vom Schmuckverkauf in der U-Bahn zur Arbeit in einer Autowerkstatt: aus schierer Armut müssen manche Kinder schneller groß werden, als sie sollten. Ein alter Gauner beauftragt Ali, den Ältesten der Bande, einen geheimnisvollen Schatz auszugraben, der mit mehr Geld lockt, als die Kinder jemals gesehen haben. Der Schatz ist einem alten Bauplan zufolge in Tunnelsystemen unter einer Schule verborgen. Kurzerhand melden sich die Jungen in dieser ,,Sun School” an und merken zunächst noch nicht, dass sie in dieser gemeinnützigen Schule für Straßenkinder wahrlich am richtigen Ort gelandet sind.
Mit diesem realistischen und sowohl lustigen wie dramatischen Werk setzt sich die Glückssträhne des iranischen Kinos der letzten Jahre weiter fort. ,,Sun Children” war schon 2020 im Wettbewerb von Venedig zu sehen und schafft es nun endlich auch in die deutschen Kinos. Beeindruckend ist vor allem Roohollah Zamani in seiner ersten Rolle als Ali. Mit seinem ausdrucksstarken Gesicht und einem puren Lebensdrang wechselt er mühelos von Charme zu Verzweiflung und erinnert dabei an Jean-Pierre Léaud in Truffauts „Sie küssten und schlugen ihn“. Auch wenn das Drama des Grabens nach dem Schatz im letzten Filmdrittel etwas ausufert – diese Kinder bringen die Sonne auch in die dunkelsten Ecken der Stadt. Nora Stavenhagen
Iran 2020; 99 Min.; R: Majid Majidi; D: Roohollah Zamani, Ali Nasirian, Javad Ezzati; Kinostart: 5.5.
Als Susan Sontag im Publikum saß
EXPERIMENT „Alle Frauen sind Lesben.“ Mit dieser Ansage meldete sich 1971 die Journalistin Jill Johnston bei einem „Dialog über die Frauenbefreiung“ zu Wort. Sie fügte dann noch hinzu: „Außer die, die es noch nicht wissen.“ Ihr Text hatte Aspekte einer Performance, die ganze Veranstaltung war ebenso sehr Spektakel wie ernsthafter Diskurs. In dem Dokumentarfilm „Town Bloody Hall“ ist die ganze Sache festgehalten, in allen Details, auf die sich nun auch RP Kahl mit seinem Film „Als Susan Sontag im Publikum saß“ bezieht.
Der Name der berühmten Intellektuellen soll wohl als eine Art Lockvogel dienen, der das Publikum zu den Heldinnen der damaligen (weißen) feministischen Szene führen soll, und zwar in Form eines Re-Enactments in Zusammenarbeit mit dem Kunstverein Hamburg und dem Ballhaus Ost. Im wesentlichen sieht man RP Kahl selbst, der den Moderator und Provokateur Norman Mailer spielt, mit den vier Darstellerinnen Saralisa Volm, Luise Helm, Heike Melba-Fendel und Celine Yildrim wie bei einer Podiumsdiskussion sitzen und den Text von damals rezitieren oder vielleicht eher rekapitulieren.
Auf dem Weg in eine Post-Gender-Gesellschaft? „Als Susan Sontag im Publikum saß“ von RP Kahl
Das Projekt geht aber über eine bloße Wiederaufführung eines Live-Ereignisses hinaus, die Beteiligten denken mit und weiter, sie machen sich Gedanken darüber, ob eine „Post-Gender-Gesellschaft“ denkbar ist, und ob der intersektionale Feminismus von heute schon weiter ist. Den damaligen Einwand der Literaturkritikerin Diana Trilling, dass das von Norman Mailer bestimmte Konzept „vielleicht nicht ganz überzeugt“, vermag „Als Susan Sontag im Publikum saß“ nicht wirklich zu entkräften. RP Kahl hätte diese (seine) Position vielleicht auch leer lassen können. Bert Rebhandl
D 2021; 86 Min.; R: RP Kahl; D: RP Kahl, Saralisa Volm, Celine Yildirim, Heike Melba-Fendel, Luise Helm; Kinostart: 5.5.
Die Biene Maja – Das geheime Königreich
ANIMATIONSFILM In Sachen weiblicher Emanzipation ist die Biene Maja schon immer ganz weit vorne gewesen. Vor lauter Entdeckerfreude und Abenteuerlust ist sie kaum zu bremsen, während sich ihr bester Freund Willi in der Regel als dösiger Schluffi erweist, der mit all seinen stilisierten Insektenbeinen voll auf der Bremse steht, wenn es darum geht, etwas Spannendes zu erleben. Schlafen und Essen, das liegt ihm schon eher. Das war schon in der legendären Zeichentrickserie der 1970er Jahre so, und ist auch im mittlerweile dritten Computeranimationsspielfilm „Die Biene Maja – Das geheime Königreich“ nicht anders.
Na, dann mal los: Kaum aufgewacht aus dem Winterschlaf ist Maja voller Vorfreude auf den nahen Frühling und verbreitet mit ihren mit viel Enthusiasmus angegangenen Unternehmungen ordentlich Chaos im Bienenstock. Als sie zufällig ein Gespräch der Bienenkönigin mithört, die dabei andeutet, dass Maja und Willi möglicherweise getrennt werden sollen, ist die Bestürzung groß. Eine richtig gute Tat muss her und lässt auch nicht lange auf sich warten: Eine Ameise bittet Maja und Willi um Hilfe, ein Ei mit einer Ameisenprinzessin über gefährliches Terrain zum weit entfernten Nest zu bringen – was ein prahlerischer Käfer-Anführer und seine Truppen, die sich mit den Ameisen um dasselbe Territorium streiten, unbedingt verhindern wollen.
Gedacht ist das Ganze in etwa für Erstklässler, und ob man denen jetzt unbedingt mit Insektenkrieg kommen muss, kann man an dieser Stelle vielleicht auch mal fragen. Im Wesentlichen aber geht es um kleine Abenteuer, ganz viel Freundschaft und Hilfsbereitschaft – und auch der Streit wird friedlich beigelegt. Angst muss hier niemand haben. Lars Penning
AUS/D 2021, 88 Min., R: Noel Cleary; Kinostart: 5.5.
Sigmund Freud – Freud über Freud
ESSAY Der französische Dokumentarist David Teboul hat sich mehrfach bedeutenden Figuren des 20. Jahrhunderts wie Simone Weil oder Yves Saint Laurent in sehr persönlichen Filmen genähert. Hier erzählt er die Geschichte der klassischen Psychoanalyse mit einer Fülle von Bildmaterial aus dem privaten Umfeld von Vater Sigmund und Tochter Anna Freud, kombiniert mit Textfragmenten aus deren theoretischen Schriften, Briefen und persönlichen Notizen wichtiger Wegbegleiter:innen. Das ist keine kritisch distanzierte Arbeit, sondern ganz bewusst als freier biographischer Essay angelegt – leicht traumartig, hypnotisch, suggestiv montiert. Im Mittelpunkt stehen die lyrischen, immer wieder im Detail auch fiktiven Ichs von Sigmund und Anna Freud (mit den deutschen Stimmen von Johannes Silberschneider und Birgit Minichmayr), die uns die Entwicklungsgeschichte der klassischen Psychoanalyse und die ihrer eigenen jüdischen Identität erzählen.
Dazu stellt Teboul oft assoziativ, immer wieder aber auch plakativ Found-Footage-Bilder neben rare Homemovies der Freuds, Momente von Wanderungen in den oberösterreichischen Sommerfrischen, oder Farbfilme von Marie Bonaparte, die die Freuds 1938 auf der Flucht über Paris nach London zeigen. Tebouls Streben nach einer freien, hybriden Dokumentarform bringt interessante Momente hervor, gerät aber auch an Grenzen, droht zu idealisieren, auf der Musikspur zu verkitschen, Kontroversen oder Grenzüberschreitungen zu bagatellisieren. Den allzu idealisierenden Eindruck könnte man mit Freud-Biographien (etwa von Judith Le Soldat oder George Makari) inhaltlich erweitern. Robert Weixlbaumer
F 2020; 98 Min.; R: David Teboul; Kinostart: 5.5.
In der Vorwoche startete Andreas Dresens Berlinale-Hit „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“; wir haben die Hauptdarstellerin Meltem Kaptan getroffen. Sehr zu empfehlen laut tipBerlin-Filmkritik aktuell auch: „Vortex“ von Gaspar Noë; auch zu dem Wikingerepos „The Northman“ haben wir ein Interview, nämlich mit dem Schauspieler Alexander Skarsgard. alles zu Kino und Stream gesammelt unter dieser Rubrik.