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Neu im Kino

Filmstarts der Woche: Von Kurdwin Ayubs „Sonne“ bis zum Abtreibungsdrama „Call Jane“

Die Wiener Kurdin Kurdwin Ayub hat einen Film gemacht, der es mit TikTok und Instagram aufnimmt: „Sonne“ ist dabei großes Kino. Außerdem diese Woche neu: „Call Jane“, eine Geschichte aus der amerikanischen Frauenbewegung; oder „Eine Frau“, in dem Jeanine Meerapfel über ihre Mutter nachdenkt. Viele starke Frauen also aktuell im Kino. Die Filmstarts der Woche im tipBerlin-Überblick.

Sonne

„Sonne“ von Kurdwin Ayub. Foto: Neue Visionen

DRAMA Drei junge Wienerinnen blödeln herum. Die Kamera ist immer dabei, ein Hidschab ist auch zur Hand, von R.E.M. hören sie den Song „Losing My Religion“. Dass sie dazu twerken, kommt schließlich nicht in das Video, das sie von ihren Späßen posten. Aber das Kopftuch. Pop mit Burka, so könnte man zuspitzen, was Yesmin, Nati und Bella da gemacht haben. Plötzlich sind sie ein bisschen prominent, und bald werden sie auf einer Hochzeit, auf der viele fromme Muslime zu Gast sind, gebeten, den Song noch einmal zu singen. Yesmins Vater ist ganz begeistert von den drei „Popstars“, er schwingt sich zu ihrem „Manager“ auf. Währenddessen steigt aber die Spannung zwischen den drei Girls. Vor allem Yesmin, die anfangs das Kopftuch noch ganz normal im Alltag trägt, macht sich viele Gedanken, auch das Verhältnis zu ihrem Bruder, einem kleinen Macho, macht ihr Kopfzerbrechen.

Im Februar hatte „Sonne“ von Kurdwin Ayub in der Sektion Encounters auf der Berlinale Weltpremiere. Wer das Glück hatte, den Film auf einer großen Leinwand zum Beispiel im Cubix zu sehen, erlebte ein Spektakel: vielleicht der erste TikTok-Film, mit zum Teil hochformatigen Handybildern zwischen normalen Kinobildern. Ayub hat sich ihre Methode mit dem Dokumentarfilm „Paradies Paradies“ erarbeitet, in dem sie ihren Vater in die kurdische Heimat im Irak begleitete. Ihre Eltern spielen nun auch in „Sonne“ mit, dieses Mal in einem fiktionalen Erzählfilm, der aber zutiefst von der Unmittelbarkeit geprägt, die auf den sozialen Medien gesucht wird – und die Kurdwin Ayub sehr klug in ein neues Direct Cinema verwandelt. Bert Rebhandl

Ö 2022; 88 Minuten; R: Kurdwin Ayub; D: Melina Benli, Law Wallner, Maya Wopienka; Kinostart: 1.12.

Call Jane

„Call Jane“ von Phyllis Nagy. Foto: DCM

DRAMA Joy lebt die in den Suburbs von Chicago im Jahre 1968 ein braves Hausfrauendasein, bis sie sich eines Tages damit konfrontiert sieht, dass sie an ihrer (späten) Schwangerschaft, die eine Herzinsuffizienz ausgelöst hat, sterben könnte. Als der Klinikvorstand – unnötig zu sagen: Männer allesamt – eine Notabtreibung ablehnt, wendet sich Joy an eine unter dem Namen „Call Jane“ illegal operierende Initiative von Aktivistinnen, die den Eingriff unter einigermaßen würdigen Umständen anbietet. Nicht lange dauert es, da zählt die patente Joy zu den verdienten Mitarbeiterinnen der Organisation; doch die damit einhergehende Heimlichkeit bringt ihr Leben und das ihrer Familie ziemlich durcheinander.

Frauen helfen Frauen: „Call Jane“ feiert feministische Solidarität

Auch wenn es sich bei „Call Jane“ um einen recht konventionell inszenierten Film handelt, der viele der darin angesprochenen Konflikte nur anreißt, so nimmt einen doch ein, mit welcher Konsequenz er den Vorgang einer Abtreibung aus den Abgründen der Hölle herausholt, in denen er gemeinhin angesiedelt ist. Dabei muss dieser Vorgang weder lebensgefährlich sein noch den Charakter einer Bestrafung haben, um vom patriarchal reglementierenden Instrument, das dem Abbruch einer Schwangerschaft den Nimbus der Sünde anheftet, mal ganz zu schweigen. In „Call Jane“ helfen Frauen Frauen dabei, das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper auszuüben, und es tut gut und ist erhellend, die ganze verzwickte Sache einmal zur Abwechslung aus diesem Blickwinkel zu betrachten. Alexandra Seitz

USA 2022; 121 Min.; R: Phyllis Nagy; D: Elizabeth Banks, Sigourney Weaver; Kinostart 1.12.

Mehr denn je

„Mehr denn je“ von Emily Atef. Foto: Pandora

DRAMA Hélène ist krank. Ihr Lungengewebe vernarbt, die Lunge nimmt immer weniger Sauerstoff auf. Ein paar Jahre wird sie mit einem Sauerstoffgerät noch leben können, doch ihre einzige wirkliche Überlebenschance besteht in einer Lungentransplantation. „Mehr denn je“ von Emily Atef macht aus dieser Prämisse jedoch keine Siechtumsgeschichte, sondern ein essenzielles Drama um die Frage, wie man mit dieser Diagnose und dem unweigerlich auf die Erkrankte zukommenden Erwartungsdruck umgehen kann. Für Hélènes Mann Matthieu (Gaspard Ulliel) ist die Sache sonnenklar: Hélène muss sich schonen, immer den ärztlichen Ratschlägen folgen und selbstverständlich die Chance zu einer Transplantation wahrnehmen.

Für Hélène (Vicky Krieps) ist das allerdings keineswegs so selbstverständlich. Schließlich bricht sie aus: nach Norwegen, zum krebskranken Blogger Bent (Bjørn Floberg), den sie im Internet kennengelernt hat. Das wortkarge Nebeneinander ohne Ansprüche mit jemandem, der eine ähnliche Erfahrung durchmacht und wenig auf die Meinung anderer Leute gibt, tut ihr offensichtlich gut. Äußerlich mit wenig Aktion einhergehend, entfaltet das Drama doch eine breite Palette an nachvollziehbaren emotionalen Verwicklungen, getragen vor allem von Vicky Krieps, die ihrer eindrucksvollen Liste an guten und interessanten Filmen einen weiteren hinzufügt. Lars Penning

F/D/LUX/N 2022; 123 Min.; R: Emily Atef; D: Vicky Krieps, Gaspard Ulliel, Bjørn Floberg; Kinostart: 1.12.

Die stillen Trabanten

„Die stillen Trabanten“ von Thomas Stuber. Foto: Warner Bros.

DRAMA Das Buch „Die stillen Trabanten“ des Leipziger Schriftstellers Clemens Meyer war 2017 ein ausgesprochener Kritikerliebling: ein Erzählband mit Kurzgeschichten um einsame Menschen, aus denen Regisseur Thomas Stuber und Co-Autor Meyer für die Verfilmung nun drei herausgesucht haben, in denen sich die Protagonis:innen vorsichtig anderen Menschen zu nähern versuchen. Zwei Frauen begegnen sich, bedingt durch ihre Arbeit, im Gebäude des Leipziger Hauptbahnhofs; ein Imbissbetreiber (Albrecht Schuch) interessiert sich für seine verheiratete, zum Islam konvertierte Nachbarin (Lilith Stangenberg); ein Wachmann (Charly Hübner) begegnet am Zaun des Ausländerwohnheims einer jungen Frau aus Osteuropa (Irina Starshenbaum).

Schönes Wiedersehen: Nastassja Kinski in „Die stillen Trabanten“

Und so stehen sie dann da, im nächtlichen Bahnhof, im kargen Treppenhaus der Hochhaussiedlung und am Zaun des Heims, und bleiben doch (überwiegend) einsam. Wem das jetzt alles ein wenig plakativ erscheint: Ja, das ist es auch. In der Literatur hat man als Leser stets noch die eigene Fantasie, wenn es darum geht, die Leerstellen auszufüllen, das Kino hingegen wird  oftmals überdeutlich, wenn es um Topoi wie Einsamkeit und Melancholie geht. Am besten gelungen ist hier die Episode mit den beiden Frauen am Bahnhof, der Bahn-Reinigungskraft Christa (Martina Gedeck) und der Friseurin Birgitt (Nastassja Kinski), die sich eigentlich schon mit ihrem einsamen Leben abgefunden haben, und für die die zaghafte Annäherung einfach eine schöne Überraschung birgt. Da kann dann auch Nastassja Kinski ihre mädchenhafte Ausstrahlung noch einmal zur Geltung bringen, die sie einst berühmt machte, und die sie auch heute mit Anfang 60 immer noch besitzt. Lars Penning

D 2022; 120 Min.; R: Thomas Stuber; D: Nastassja Kinski, Martina Gedeck, Albrecht Schuch, Lilith Stangenberg, Charly Hübner, Irina Starshenbaum; Kinostart: 1.12.

Eine Frau

„Eine Frau“ von Jeanine Meerapfel. Foto: Real Fiction

DOKUMENTARFILM Jeanine Meerapfel, in Berlin auch bekannt in ihrer Funktion als Präsidentin der Akademie der Künste, hat einen Film über ihre Mutter gemacht: Marie-Christine Châtelaine, genannt Malou, geboren 1911 als uneheliches Kind, aufgewachsen im französischen Burgund bei einer Tante, die das Kind als Näherin ausnutzte. Später dann Heirat mit einem deutsch-jüdischen Tabakkaufmann, Carlos Meerapfel, wie er als naturalisierter argentinischer Staatsbürger hieß. Man lebte ein Leben wohlhabender Menschen, wie die Fotos aus der Zeit zeigen: viele Reisen und Freizeitaktivitäten, alles sehr chic und immer sonnig. In der Nazizeit dann die Emigration, erst nach Amsterdam in die Niederlande, später nach Argentinien. Zwei Töchter werden geboren, die Ehe zerbricht. Es gibt Streit um das Sorgerecht und die Alimente. Der Wohlstand sinkt, der Alkoholkonsum steigt. Malou stirbt mit 61 Jahren an Nierenversagen, allein, in eher ärmlichen Verhältnissen am Stadtrand von Buenos Aires.

Gleichrangig neben dieser Biografie steht zum anderen das Nachdenken über Erinnerung. Was macht mehr Sinn – sie zu ordnen oder lieber doch nicht? Und was ist geblieben von einem Leben? Das Silberbesteck, ein Ventilator, einige Fotos? Zudem gibt es die Unschärfe der Erinnerung: „War das so, oder ist es mein fantasiertes Gedächtnis?“, fragt sich Meerapfel in ihrem Kommentar immer mal wieder. Alte Fotos und 8mm-Filme überlagern die eigene trügerische Erinnerung, „okkupieren“ sie, wie Meerapfel das nennt. Immer wieder vollzieht sie einen Abgleich der Fotos mit den Schauplätzen in der Gegenwart. Und so reicht diese Reise zu den unscharfen Erinnerungen auch immer wieder in die Gegenwart hinein, alles versammelt in einem klugen, schönen und sehr persönlichen Film. Lars Penning

D/RA 2021; 100 Min.; R: Jeanine Meerapfel; Kinostart: 1.12.

Der kleine Nick erzählt vom Glück

„Der kleine Nick erzählt vom Glück“ von Benjamin Massoubre und Amandine Fredon. Foto: Leonine

KINDERFILM Seit Jean-Jacques Sempé (Illustrationen) und der „Asterix“-Erfinder René Goscinny (Text) 1955-56 die ersten Comic-Geschichten mit ihrem Helden „Le petit Nicolas“ („Der kleine Nick“) in der französischen Wochenzeitschrift „Le Moustique“ veröffentlichten, erfreuen sich der Grundschüler und seine Freunde vor allem in Frankreich enormer Popularität. Allein seit 2009 entstanden dort drei Realfilme mit den aus kindlicher Perspektive erzählten Abenteuern des kleinen Nick, der letzte kam erst dieses Jahr in die Kinos. Jetzt also auch noch ein Animationsfilm, dessen Clou allerdings darin besteht, dass er nicht bloß einige „Petit Nicolas“-Comics in bewegte Bilder umsetzt, sondern bei alledem auch noch deren Entstehungsgeschichte sowie biografische Details der beiden Schöpfer mit einflicht.

Legendäre Comic-Kunst: „Der kleine Nick erzählt vom Glück“

Der kleine Nick entsteigt hier nämlich seinen Geschichten und unterhält sich mit den ebenfalls als Animationsfiguren präsenten Goscinny und Sempé über deren Freundschaft, ihre Arbeitsbeziehung und das Leben. So erfährt man unter anderem, dass Goscinnys jüdische Familie Opfer im Holocaust zu beklagen hatte, und dass Sempés wenig schöne Kindheit von einem ständig alkoholisierten Vater geprägt war – was die tagträumerischen Entwürfe der kindlich-heilen Welten in den Comics der beiden Künstler noch einmal in einem anderen Licht erscheinen lässt. Dem Film, dessen Design auf den Zeichnungen von Sempé beruht, gelingen die Übergänge von einer Episode zur anderen stets auf sehr originelle Weise; nicht zu Unrecht gewann diese verspielte Hommage an die legendären Comic-Künstler beim weltweit bedeutendsten Animationsfestival in Annecy 2022 den Hauptpreis. Lars Penning

F/LUX 2022; 88 Min.; R: Amandine Fredon, Benjamin Massoubre; Kinostart: 1.12.

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Auch am 24. November gab es spannende Filmstarts, zum Beispiel das Menschenfresserdrama „Bones and All“. Kürzlich gingen die Hofer Filmtage zu Ende, wie immer mit spannenden Premieren – für tipBerlin war Martin Schwarz vor Ort. Videotheken waren früher ein wichtiger Anlaufpunkt für Kinomenschen in Berlin – wir erinnern uns an die besten Orte. Auf dem Laufenden bleibt ihr Mit unserer Rubrik zu Kino in Berlin. Was läuft wann? Das aktuelle Kinoprogramm für Berlin ist hier.

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