Neu im Kino

Die Filmstarts der Woche: Von „Holy Spider“ bis „Acht Berge“

Das Kinojahr 2023 lässt sich bisher sehr gut an: Mit dem iranischen Drama „Holy Spider“ kommt diese Woche ein hochaktueller Film heraus. Außerdem empfehlen wir „Acht Berge“, in dem der Spirit der dünnen Luft gefeiert wird. Dazu ein Thriller aus Frankreich („In der Nacht des 12.“), ein angemessen grimmiger Schocker über Künstliche Intelligenz im Kinderzimmer („M3GAN“), und eine Rundreise um Berlin („Berlin JWD“). Die Filmstarts der Woche im tipBerlin-Überblick.


„Holy Spider“ von Ali Abbasi: Der Serienmörder als Held

„Holy Spider“ von Ali Abbasi. Foto: Alamode

DRAMA Der Auftakt ist drastisch: eine junge Mutter, die sich vor dem Spiegel zurechtmacht, um ihrer Tätigkeit als Prostituierte nachzugehen, wird ermordet – erwürgt mit ihren eigenen Kopftuch. Ist der Täter anfangs nur ein Schatten, so lernen wir ihn bald näher kennen: Saeed Hanaei ist tagsüber Bauarbeiter, der in der Nacht seinen Opfern auf dem Motorrad folgt. Er lebt in dem Bewusstsein, in Allahs Auftrag zu handeln, die Straßen der heiligen Stadt Maschhad von „Dreck“ zu säubern, während er damit hadert, dass es ihm nicht vergönnt war, im Krieg als Held zu fallen. Und er ist ein Familienvater, der es ausnutzt, wenn seine Ehefrau mit den beiden Kindern ihre Eltern besucht. Denn die Opfer tötet er in seiner eigenen Wohnung, was ihm eine zusätzliche Befriedigung zu bereiten scheint. Einmal schläft er mit seiner Frau, während die Leiche seines letzten Opfers sich noch im Raum befindet, eingewickelt in einen Teppich, aus dem ein Körperteil herausragt.

Seine Taten, ebenso wie sein Leben als Familienvater, kontrastiert der Film mit den Nachforschungen der jungen Journalistin Rahimi, die aus Teheran angereist ist, wo sie von ihrem Chef gefeuert wurde, als sie sich seinen Annäherungsversuchen widersetzte. Männliche Überlegenheitsgebärden begegnen ihr hier wieder, in der Arroganz des Mannes an der Rezeption des Hotels, in das sie einchecken will, ebenso, wenn der in dem Fall ermittelnde Polizeibeamte sie nachts auf ihrem Hotelzimmer bedrängt.

Wenn die Ehefrau – trotz des Wissens um seine Taten – ihren Mann verteidigt, wenn sein Sohn diese Taten nachspielt, wenn Saeed von Teilen der Bevölkerung als Held gefeiert wird und wenn auch Angehörige staatlicher Instanzen ihre Sympathien nicht verhehlen, dann tritt die Krankheit der Gesellschaft klar zu Tage, der Film nimmt jene absurden Züge an, die Abbasis vorangegangenen Film „Border“ auszeichneten – nur ist dies hier bittere Realität. Frank Arnold

Holy Spider Dänemark/D/F/Schweden 2022; 117 Min.; R: Ali Abbasi;  D: Zar Amir Ebrahimi, Mehdi Bajestani, Arash Ashtiani; Kinostart: 12.1. 

Acht Berge

„Acht Berge“ von Charlotte Vandermeersch und Felix van Groeningen. Foto: DCM

„Ich bin das letzte Kind von Grana“, sagt Bruno zu Pietro, der etwa gleich alt ist und dessen Eltern sich den Sommer über in einem der Häuser des aussterbenden Dorfes im Aostatal eingemietet haben. Die Buben freunden sich miteinander an; das ist naheliegend, sind sie doch die einzigen weit und breit. Dass aus gemeinsamen Ferienabenteuern und Bergwanderungen eine Freundschaft entstehen wird, die ihrer beider Leben lang hält, das ist schon weniger selbstverständlich. Zumal Bruno und Pietro sich zwischenzeitlich gleich doppelt entfremden, voneinander nämlich und von ihren jeweiligen Vätern. Doch dann erbt Pietro von dem seinen eine Alm, die wiederaufzubauen dieser wiederum Bruno das Versprechen abgenommen hat, und so entsteht in gemeinsamer Arbeit aus einer Ruine eine Berghütte, ein Schutzraum, ein Rückzugsort, ein spirituelles Zentrum: die Heimat einer Freundschaft.

„Acht Berge“ von Felix van Groeningen und Charlotte Vandermeersch – vergangenes Jahr beim Festival in Cannes (ex aequo mit Jerzy Skolimowskis „EO“) mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet – ist kein Bergsteigerfilm. Auch wenn es Pietro immer wieder in die Welt hinaus- und auf die höchsten Berge hinauftreibt und er sein Liebesglück schließlich in Nepal findet. Während Bruno standfest und sesshaft in seinem Tal bleibt und sich eine bescheidene Existenz als Bergbauer aufbaut.

Van Groeningen und Vandermeersch, die in ihrem Drehbuch den gleichnamigen, 2016 erschienenen Roman von Paolo Cognetti adaptieren, sind sich der Bedeutung der Frage ebenso wohl bewusst wie der Tragweite der Antwort. Und doch gelingt ihnen das Kunststück, jedwede Erdenschwere aus ihrem Film fernzuhalten und darüberhinaus inmitten spektakulärer Landschaftspanoramen intime Nähe zu ihren Figuren herzustellen und zu halten. Alexandra Seitz

Le otto montagne Belgien/Frankreich/Italien 2022; 147 Min.; R: Felix van Groeningen, Charlotte Vandermeersch; D: Alessandro Borghi, Luca Marinelli, Elena Lietti; Kinostart: 12.1.

In der Nacht des 12.

„In der Nacht des 12.“ von Dominik Moll. Foto: Ascot Elite

KRIMI In Frankreich werden 20 Prozent aller Mordfälle nicht aufgeklärt. Diese Information steht am Beginn von Dominik Molls „In der Nacht des 12.“, der dann folgerichtig auch mit einem Mord beginnt: Eine junge Frau, nachts gut gelaunt auf dem Heimweg von einem Mädelsabend, wird mit Benzin überschüttet und angezündet. Die lokale Polizei in der Region Grenoble im Südosten Frankreichs übernimmt die Ermittlungen. Yohan (Bastien Bouillon) ist mit seiner Aufgabe als Chef der Abteilung noch ganz neu, er ist umgeben von Kollegen, die alle ihre eigenen Probleme und Problemchen in den Dienst mitbringen. Marceau (Bouli Lanners) zieht sogar eine Weile bei Yohan ein, seine Frau hat ihn hinausgeschmissen.

Dominik Moll entwirft ein Porträt der Polizeiarbeit, das zugleich das Porträt einer Region und auch einer Generation ist. Vor allem aber geht es in „In der Nacht des 12.“ um Geschlechterverhältnisse, um freizügige Sexualität, um Beziehungsgewalt, um die Explosivität des Begehrens. Da von Beginn an klar ist, dass es zu keiner Auflösung (schon gar nicht im klassischen Sinn wie bei Agatha Christie oder ähnlichen Könnern des Whodunits) kommen wird, kann Moll sich auf die Abläufe konzentrieren, und auf die Vergeblichkeit, die im Tun von Institutionen nun einmal liegt. Denn nicht jede Form von Gewalt lässt sich zähmen. Exzellente Darsteller und ein kluges Drehbuch tragen zu einem in jeder Sekunde spannenden Film bei, bei dem man allerdings auf Nuancen achten muss. Bert Rebhandl

F 2022; 114 Min.; R: Dominik Moll; D: Bastien Bouillon, Bouli Lanners, Anouk Grinberg; Kinostart: 12.1.

„M3GAN“ von Gerard Johnstone: Tech-Satire mit einem Mini-Musk

„M3GAN“ von Gerard Johnstone. Foto: Universal

HORROR Die Programmiererin Gemma (Allison Williams) ist an einer ganz großen Sache dran: einer sprechenden Puppe, die durch künstliche Intelligenz und Robotik zu einer lebensechten Spielgefährtin werden könnte. Wie es der Zufall will, wird sie ausgerechnet in der Phase vor der Produkpräsentation auch als Ersatzmutter gebraucht: ihre Nichte Cady (toll: Violet McGraw) ist nach einem Verkehrsunfall zu einem Waisenkind geworden, und braucht dringend neue Zuwendung. Allerdings ist „M3GAN“ vielleicht ein wenig zu perfekt. Und so wird Cady innerhalb kurzer Zeit regelrecht süchtig nach der neue Gefährtin, während Gemma versucht, ihre Pflichten als Adoptivmutter mit ihrer Karriere in einer halb totalitären Spielzeug-Tech-Firma unter einen Hut zu bekommen.

Nach einem Drehbuch von Akela Cooper (bekannt geworden mit „Malignant“) erzählt Gerard Johnstone eine unheimliche Geschichte aus der nahen Zukunft. Dass sich Künstliche Intelligenz irgendwann verselbstständigen könnte, ist ein klassisches Motiv der Technologieskepsis. Bei M3GAN könnte man allerdings schon allein deswegen argwöhnisch werden, weil sie deutliche Ähnlichkeiten mit Chucky aufweist, einer sehr erfolgreichen Mörderpuppe. „M3GAN“ mischt lustvolle Tech-Satire (Ronny Chieng gibt einen profund lächerlichen Mini-Musk) mit gekonnt gesetzten Schockmomenten zu einem weiteren Produkt aus dem inzwischen schon ziemlich beträchtlichen Ausstoß der Firma Blumhouse: Horrorkino in diesem Fall mit deutlichem Gegenwartsbezug. Bert Rebhandl

USA 2022; 102 Min.; R: Gerard Johnstone; D: Allison Williams, Violet McGraw, Ronny Chieng; Kinostart: 12.1.


Auf der Suche nach Fritz Kann

„Auf der Suche nach Fritz Kann“ von Marcel Kolvenbach. Foto: Realfiction

DOKUMENTARFILM Alles beginnt mit einer Performance. Fünf Personen in einem Raum, aufgestellt wie für ein Familienportrait. Das Voiceover trägt in fast poetischem Singsang durch bewegte Bilder, die Kriegsszenen, alte Briefe und Fotos zeigen. Kolvenbach präsentiert sich als feste Instanz des Dokumentarfilms gleich verletzlich, indem er seinen rastlosen Zustand benennt, der ihn zu dieser Suche nach seiner Familiengeschichte getrieben hat: „Immer aufbrechen, niemals ankommen. Ich halte mich an meiner Kamera fest. Die Spuren, die ich verfolge, verirren sich in schlaflosen Nächten.“

Marcel Kolvenbach begibt sich mit seinem Film auf die Spuren des ersten Mannes seiner Großmutter. Im Hintergrund steht die Frage, ob es ihn selbst nie gegeben hätte, wäre dieser fremde Mann mit dem Namen Fritz Kann niemals verfolgt, deportiert und von den Nationalsozialisten ermordet worden. 1942 wurde Kann genau neun Monate, bevor der Vater von Kolvenbach geboren wurde, abgeholt und nach Izbica gebracht, wo er im Transit-Ghetto starb. 

Die Reise von Michael Kolvenbach führt ihn bis nach Polen und sogar nach Argentinien. In seinem Dokumentarfilm lässt er Zeitzeug:innen und Historiker:innen zu Wort kommen, ebenso wie weitere Nachkommende, die wie er den Spuren ihrer Familiengeschichten folgen. Die choreographischen Elemente mit der Tänzerin Reut Shemesh geben den erzählten Gedanken Raum, sich zu entfalten. Ein einfühlsames Werk, das in Zeiten von wachsender Diskriminerung, Rassismus und Antisemitismus die Relevanz des Erinnerns verdeutlicht. Luisa-Marie Kauzmann

D/POL/ARG 2022; 90 Min.; R: Marcel Kolvenbach; Kinostart: 12.1.

Berlin JWD

„Berlin JWD“ von Bernhard Sallmann. Foto: Sallmann

DOKUMENTARFILM An den Rändern der Stadt, ganz weit draußen, oder „janz weit draußen“, wie man in Berlin sagt, hat sich der Dokumentarist Bernhard Sallmann umgesehen. Er ist schon seit vielen Jahren als Einzelgänger des Sehens unterwegs, meist mit dem Fahrrad und kleiner Technik, er hat Brandenburg auf den Spuren von Fontane durchquert. Nun nimmt er sich die Berliner Peripherie vor: „Berlin JWD“. Er sucht dabei weder besonders pittoreske Orte, noch will er irgendwelche urbanistische Befunde erstellen. Sallmann zeigt einfach, was man erblickt, wenn man beginnt, bewusst zu schauen. Das Schauen ist bei ihm immer ein Schauen durch die Kamera, er wählt somit Bildausschnitte, bewusst gerahmte Exzerpte aus der Wirklichkeit, aber diskret gerahmt. „JWD“, janz weit draußen, das bedeutet in diesem Fall, dass man zum Heizkraftwerk Lichterfelde gelangt, oder zum Teltowkanal, oder nach Arkenberge, oder zum Rundlokschuppen Heinersdorf. Ein originelles Bild von Berlin, und eine schöne Übung in einer nicht ganz selbstverständlichen Tugend: ruhiges und genaues Hinschauen. Bert Rebhandl

D 2022; 84 Min.; R: Bernhard Sallmann; Kinostart: 12.1.

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Vergangene Woche startete einer unserer aktuellen Lieblingsfilme: „Unruh“ – mit Regisseur Cyril Schäublin haben wir ausführlich gesprochen. Der Blick zurück: 2022 war ein spannendes Kinojahr, hier sind die wichtigsten Filme. Weiterhin im Kino: „She Said“ von Oscar-Favoritin Maria Schrader – hier unser Interview mit ihr. Täglich aktuell: das tipBerlin-Kinoprogramm.

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