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Filmstarts der Woche: Von „Blutsauger“ bis zum Berlin-Drama „Nico“ mit Sara Fazilat

In dieser Woche haben einige kleinere Filme die Chance auf ein bisschen Aufmerksamkeit: die Politkomödie „Blutsauger“ von Julian Radlmaier oder das famose Drama „Nico“; sehenswert ist auch eine Biografie über den Künstler Heinrich Vogeler, und in einer Doku kann man Bochum und Detroit vergleichen. Die Filmstarts der Woche vom 12. Mai 2022 im tipBerlin-Überblick.

Blutsauger

„Blutsauger“ von Julian Radlmaier. Foto: Grandfilm

KOMÖDIE Ein norddeutscher Strand ist nicht die schlechteste Örtlichkeit für einen Lesekreis, der sich mit den komplizierten Werken von Karl Marx beschäftigt. Man sollte gut ausgelüftet sein, wenn man die Wirkweisen des Kapitals verstehen möchte. In Julian Radlmaiers „Blutsauger“ kann man zu Beginn in der Gruppe, die sich über die Schriften von Marx beugt, die eine oder andere Figur aus der Szene der Berliner Cinephilie entdecken. Doch das sollte nicht in die Richtung missverstanden werden, dass es sich bei diesem Film um eine Insider-Veranstaltung handelt. Vielmehr geht es um den Versuch, aus der Perspektive der späten 1920er-Jahre auf unsere neufeudale Gegenwart zu schauen – oder umgekehrt. Nicht von ungefähr taucht ab und zu Heiligendamm auf, wo Investoren nach der Wende unbedingt preußische Glorie für betuchte Menschen neu erstrahlen lassen wollten.

Bei Radlmaier spielt Lilith Stangenberg die Fabrikantin Octavia Flambow-Jansen, die unreflektierte Sympathien für das einfachere Volk hegt und sich schließlich sogar einen „Renommierproleten“ zuzieht: einen Mann namens Ljowuschka, der im sowjetischen Revolutionskino in die falsche Fraktion geriet, und nun in Deutschland an eine andere Art von Kino-Komödie gerät – dekadente Home Movies? Julian Radlmaier verbindet in „Blutsauger“ die vielen Aufbruchsmomente der 1920er-Jahre und lässt sie komisch durcheinander laufen. So entsteht eine vertrackte politische Fabel, die in verschiedene Richtungen entzifferbar ist, auf jeden Fall aber großen, hintersinnigen Spaß macht. Bert Rebhandl

D 2021; 125 Min.; R: Julian Radlmaier; D: Lilith Stangenberg, Alexandre Koberidze, Corinna Harfouch; Kinostart: 5.5.

Prägende Simpsons, Lesekreise, bayerischer Antikommunismus: Wir sprachen mit „Blutsauger“-Regisseur Julian Radlmaier über seine Marx-Vampirkomödie.

Nico

„Nico“ von Eline Gehring. Foto: UCM ONE

DRAMA Von einem Moment auf den anderen ist nichts mehr, wie es war. Auf einem ihrer Wege durchs sommerliche Berlin gerät die Altenpflegerin Nico an die Falschen. Drei Rassisten, die die Deutschperserin erst schikanieren und dann verprügeln. Unmittelbar und detailgenau ist der Beginn des rasant eskalierenden Angriffs gefilmt, so dass der plötzliche existenzielle Schrecken sich mitteilt, der mit ihm einhergeht. Der Rest verliert sich in unscharf aufblitzenden Fragmenten von Gewalt, die fortan das Trauma markieren, mit dem es Nico nach ihrem Erwachen im Krankenhaus zu tun bekommt.

„Nico“ ist das Gemeinschaftswerk von Regisseurin Eline Gehring, Kamerafrau Francy Fabritz und Produzentin und Hauptdarstellerin Sara Fazilat, die ein Drehbuch geschrieben haben, das von den dramatischen Folgen des Verlustes von Selbst- und Weltvertrauen handelt, dabei Raum für Improvisation hat und von formaler wie visueller Experimentierfreude zeugt. So folgt der Weg, den sich Nico aus der Einschüchterung zurück in ihr Dasein kämpft, kaum chronologischer Ordnung und braucht diese auch nicht. Denn die Schläge haben die Frau aus Zeit und Raum katapultiert, was sich wiederum widerspiegelt in der äußerst geringen Tiefenschärfe der Handkamera-Bilder, in denen die Hauptfigur immer wieder wie ins Taumeln gerät. Die Gewalterfahrung lässt zunächst alles verschwimmen, und nur ganz allmählich gelingt es Nico, neu zu fokussieren, vor allem aber: nach vorne zu schauen.

Fazilat bringt ihre Figur im wilden Wechsel von Stupor, Wut und Ratlosigkeit mit großem emotionalem Engagement auf den Punkt; für ihre beeindruckende Leistung wurde sie beim Filmfestival Max Ophüls Preis 2021 als Beste Nachwuchsschauspielerin ausgezeichnet. Alexandra Seitz

D 2021, 79 Min., R: Eline Gehring, D: Sara Fazilat, Sara Klimoska, Start: 12.5.

Das Licht, aus dem die Träume sind

„Das Licht, aus dem die Träume sind“ von Nan Palin. Foto: Neue Visionen

An einem Bahnhof in Indien lebt der neunjährige Samay mit seiner Familie. Wenn ein Zug hält, verkauft er Tee. Das ist das Geschäft, das seinem Vater geblieben ist, einem Mann aus der Kaste der Brahmanen. Samay geht gern ins Kino, aber das „ziemt sich nicht“, bekommt er zu hören. Nur ein religiöser Film kommt in Frage, im Galaxy Kino in der nächstgelegenen Stadt aber laufen Attraktionen wie „Der Gangster“. Samay findet einen Weg, wie er das väterliche Verbot umgehen kann. Er freundet sich mit Fazal an, dem Vorführer im Galaxy. Im Tausch gegen die köstlichen Esspakete, die er jeden Tag von seiner Mutter bekommt, darf Samay nun aus der Kabine zuschauen, wie alle die Schätze des indischen Kinos laufen. Er himmelt die Stars an, singt die Lieder mit, und irgendwann beginnt er auch selbst davon zu träumen, „das Licht zu studieren“. Damit beginnt für ihn die Kunst des Kinos – mit Farbscherben, in denen sich etwas reflektiert.

Der indische Regisseur Pan Nalin erzählt in „Das Licht, aus dem die Träume sind“ eine Kindheit im Zeichen des Kinos. Das bedeutet für Samay konkret: Geschichten kommen aus dem Material, es gibt sie nicht ohne das Zelluloid, das in großen Dosen mit der Bahn geliefert wird. Das Kino entdeckt Samay mit seinen Freunden als ein Medium, das man sich erarbeiten muss. Sie stehlen eine Filmdose, improvisieren einen Projektor, in einem „Geisterdorf“ organisieren sie heimliche Vorführungen, bei denen die Kinder zu den stummen Bildern einen Soundtrack improvisieren. Mit jeder Faser hält „Das Licht, aus dem die Träume sind“ an diesem Paradies fest, das nie eines war, das Nan Palin aber sehr geschickt heraufbeschwört. Er bietet alle Schauwerte auf, die das indische Kino längst auch für ein westliches Publikum so attraktiv machen: die Farbenpracht, die herrlichen Landschaften, die exotische Küche. „Die Zukunft gehört den Erzählern von Geschichten“, sagt Fazal einmal zu Samay, und man kann diesen Satz auch getrost umkehren. Denn Nan Palin macht deutlich, dass auch die Vergangenheit eher den Erzählern gehört, die davon ein verklärtes Bild zeichnen.

In Sachen Kinomythologie ist „Das Licht, aus dem die Träume sind“ ein ehrgeiziger Wurf: von Stanley Kubrick bis Andrei Tarkowski werden schließlich alle eingemeindet. Und doch ist Nan Palins Vision ein bisschen zu deutlich auf Effekt hin getrimmt, um sich wirklich dem einfachen Strahlen des Licht zu überlassen. Kein Wunder, dass die Pointe schließlich auf eine Art Plastik-Reinkarnation hinausläuft. Bert Rebhandl

Indien 2021; 112 Min.; R: Nan Palin; D: Bhavin Rabari, Bhavesh Shrimali, Dipen Raval; Kinostart: 12.5.

Heinrich Vogeler – Aus dem Leben eines Träumers

„Heinrich Vogeler“ von Marie Noëlle. Foto: Farbfilm

BIOGRAFIE Nach der Filmbiografie über die Naturwissenschaftlerin Marie Curie (2016) lässt Regisseurin Marie Noëlle nun einen Film über den Maler Heinrich Vogeler folgen. Diesmal bedient sie sich des Formats Dokudrama, ein Mix aus Spielfilm, Archivmaterial und Interviews, geht dabei aber in ihrer Inszenierung noch weiter und bearbeitet zur dramaturgischen Akzentuierung sogar das Archivmaterial mittels Farbverfremdungen und auf der Tonebene. Und es gelingt ihr, dem ungewöhnlichen Menschen Vogeler nahezukommen.

Geboren 1872 in Bremen, avanciert Vogeler bereits jung zum Star der deutschen Kunstszene, besonders seine Jugendstil-Gemälde sind begehrt. Er wird einer der ersten Bewohner des Künstlerdorfes Worpswede nahe Bremen. Der Film folgt in Spielfilmszenen mit Florian Lukas in der Titelrolle – kommentiert von Vogeler-Expert:innen sowie Verwandten – chronologisch dem Leben des Künstlers und seinen Beziehungen zu Magda Vogeler (Anna-Maria Mühe) und später Sonja Marchlewska (Alice Dwyer), zeigt seine enge Freundschaft zu Paula Modersohn-Becker (Naomi Achternbusch) und Rainer-Maria Rilke (Johann von Bülow).

Vogelers Begeisterung für den Ersten Weltkrieg schlägt in unbedingten Pazifismus um, seine Hinwendung zum Kommunismus führt ihn nach Moskau und schließlich 1941 nach Kasachstan, wo er 1942 stirbt. Und da sind Vogelers Gemälde, an denen sich gut die Stationen seines Lebens ablesen lassen. Dabei verheddert sich Marie Noëlle nie in ihrer komplexen Struktur. Ein Film, der Aufmerksamkeit erfordert und belehrend im besten Sinne des Wortes ist. Martin Schwarz

D 2022, 90 Min., R: Marie Noëlle, D: Florian Lukas, Anna-Maria Mühe, Alice Dwyer, Start: 12.5.

Willi und die Wunderkröte

„Willi und die Wunderkröte“ von Markus Dietrich. Foto: Majestic

KINDERFILM Willi Weitzel kennen die meisten deutschen Kinder (und vermutlich auch nicht wenige Erwachsene) vor allem als Fernsehmoderator von Formaten wie „Willi wills wissen“ und „Gut zu wissen“. In seinen Sendungen für Kinder geht er mit gespielter Naivität und Unbedarftheit an Themen aus Alltag und Wissenschaft heran, gibt dabei quasi die erwachsene Version des ewig neugierigen Kindes. In seinem zweiten Kinofilm (nach dem Erfolg von „Willi und die Wunder dieser Welt“, 2009) dreht sich nun alles um das Leben von Fröschen.

Weitzel spielt sich als Fernsehmoderator und -reporter Willi quasi „selbst“ und begibt sich anfangs etwas widerstrebend auf Expeditionen nach Ägypten in die Wüste sowie in den Regenwald von Bolivien, um sich über verschiedene Arten von Fröschen und Kröten zu informieren. Derweil muss sich „daheim“ auf dem Dorf die elfjährige Luna (Ellis Drews) mit dem ignoranten Huber-Bauern (Ferdinand Dörfler) herumschlagen, der den Froschteich, den sie einst gemeinsam mit ihrem Vater angelegt hatte, einfach zuschüttet. 

In den Expeditionssequenzen könnte man wohl am ehesten vom Format der Doku-Fiktion sprechen, der Rest ist im Bereich Spielfilm angesiedelt. Das Gefallen an diesem Film hängt vermutlich vor allem von der Erwartungshaltung ab: Der tatsächliche Informationsgehalt hätte auch in gut ein Fünf-Minuten-Format gepasst, in den übrigen nicht sonderlich mitreißenden 85 Minuten schreckt der Film beim Versuch, die Kinder für Tierwohl und Naturschutz zu begeistern, auch vor dem gefürchtetsten Klischee des deutschen Kinderfilms, dem hemmungslos chargierenden „Schurken“, nicht zurück.
Lars Penning

D 2021; 90 Min.; R: Markus Dietrich; D: Willi Weitzel, Ellis Drews, Miriam Stein; Kinostart: 12.5.

We Are All Detroit – Vom Bleiben und Verschwinden

„We Are All Detroit“ von Ulrike Franke und Michael Loeken. Foto: Real Fiction

DOKU Die USA und Deutschland: zwei große Autobauer-Nationen, deren beste Zeiten in dieser Hinsicht vorbei sind. Die Filmemacher:innen Ulrike Franke und Michael Loeken stammen aus dem Ruhrgebiet und ziehen in ihrem Dokumentarfilm „We Are All Detroit – Vom Bleiben und Verschwinden“ einen spannenden Vergleich zwischen der ehemaligen Autostadt Detroit (mit dem Hauptsitz von General Motors) und Bochum, früher ein Standort der Autoproduktion von Opel, die dort 2014 eingestellt wurde. Der Niedergang dieser Industrie in den USA ist allerdings weitaus radikaler verlaufen als im Pott.

Bei einer Besichtigung der verödeten Brachflächen mit einem ehemaligen Zylinderkopf-Ingenieur bekommt man eine Idee des Ausmaßes des Niedergangs in Detroit. Und man lernt Menschen kennen, die über viele Jahrzehnte gut von der Automobilindustrie gelebt haben. Da sind aber auch Wissenschaftler, die sich mit dem beispiellosen Niedergang Detroits beschäftigen, der ja nicht nur leere Produktionsstätten beinhaltet, sondern große Wohnviertel, die verlassen wurden und veröden. In Bochum versucht man, die durch Abriss freiwerdenden Flächen neu zu nutzen, den radikalen Strukturwandel zu steuern. Ein frustrierter Planer ist allerdings anderer Ansicht, er findet die Ansiedlung eines Verteilerpostens von DHL mit 600 neuen Arbeitsplätzen nicht so prickelnd.

Die Langzeitbeobachtung – gedreht wurde zwischen 2014 und 2020 – ist ein Plädoyer gegen den ungebremsten Kapitalismus und für sorgsame Erneuerung, bei der die Menschen vor Ort nicht vergessen werden dürfen. Leute, für die der Job in der Metallindustrie oft mehr war als nur ein Arbeitsplatz: ein Teil ihrer Identität. Martin Schwarz

D 2021; 118 Min.; R: Ulrike Franke, Michael Loeken; Kinostart: 12.5.

Meine schrecklich verwöhnte Familie

„Meine schrecklich verwöhnte Familie“ von Nicolas Cuche. Foto: Telepool

Ein klassisches Komödienmotiv: Lange hat sich der Selfmade-Millionär Francis Bartek (Gérard Jugnot) das Treiben seiner Sprösslinge angeschaut, aber jetzt hat er genug. Denn Philippe (Artus), Stella (Camille Lou) und Alexandre (Louka Meliava) sind sehr verwöhnt und ziemlich schrecklich, leben in Monaco in Saus und Braus und verprassen Papas Geld. Ein vorgetäuschter Bankrott nötigt die Familie zur Übersiedlung ins nicht weit entfernte Marseille, dass den Blagen jedoch wie eine andere Welt vorkommt, zumal sie hier etwas tun müssen, das ihnen bislang erspart blieb: Arbeiten!

Was folgt ist eine überaus vorhersehbare Komödie, die Nicolas Cuche in groben Strichen inszeniert und zum absehbaren Ende führt. Man mag es naiv oder gar berührend finden, wie die Familie schließlich wieder zusammenfindet, ihren Streit überwindet, ein wenig absurd mutet es dennoch an. Ja, auch Millionäre sind Menschen, aber mit welcher Nonchalance hier über die Weltfremdheit und Arroganz der Superreichen hinweggeblickt wird erstaunt dann doch. Offenbar reichen ein paar Tage ohne Champagner und Kaviar aus, um aus drei verwöhnten Kindern mitfühlende Menschen zu machen, die zurecht sauer auf ihren Papa sind, der sie schließlich angelogen hat.

In einem arg weltfremden Elfenbeinturm existiert diese Komödie, die natürlich nicht mehr sein will als leichte Unterhaltung, sich aber nicht entscheiden will: Sich gleichzeitig über die Arroganz und Selbstgefälligkeit der Superreichen lustig zu machen, diese Welt am Ende aber zu bestätigen – das funktioniert nicht. Michael Meyns

Frankreich 2021; 95 Min.; R: Nicolas Cuche; D: Gérard Jugnot, Camille Lou, Victor Artus Solaro; Kinostart: 12.5.

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