Die Filmbranche ist in der zweiten Berlinale-Woche ein wenig in Wartestellung. Deswegen starten diese Woche vor allem Produktionen mittlerer Größe: Corinna Harfouch glänzt in dem deutschen Drama „Das Mädchen mit den goldenen Händen“, der Jugendfilm „Der Pfad“ erzählt von einer Flucht vor den Nazis, dazu gibt es einmal mehr das Thema Demenz in „Noch einmal, June“, und die Extrembergsteigerdoku „Der Alpinist“. Die Filmstarts der Woche im tipBerlin-Überblick.
Das Mädchen mit den goldenen Händen
DRAMA Ostdeutschland 1999. Zehn Jahre ist jener historische Moment her, der für die Menschen hier eine „Wende“ in ihrem Leben bedeutet hat, und das nicht immer zum Guten. Biografien wurden zerstört, Pläne und Wünsche vernichtet, aber auch Neues aufgebaut. Heute begeht Gudrun (Corinna Harfouch) ihren 60. Geburtstag, gefeiert wird in jenem früheren DDR-Kinderheim, in dem sie selbst aufgewachsen ist. Auch Gudruns Tochter Lara (Birte Schnöink) reist aus Berlin an; das Mutter-Tochter-Verhältnis war scheinbar schon immer schwierig, mit Laras Stiefvater Werner (Peter René Lüdicke) als Vermittler auf verlorenem Posten. Über Laras leiblichen Vater hat sich Gudrun immer ausgeschwiegen. Bei der Feier tritt es zutage: Der Bürgermeister (Jörg Schüttauf) will das sanierungsbedürftige Kinderheim an eine Investorengruppe verschachern, ein Edelhotel soll entstehen. Das ist für Gudrun, die besonders an diesem Bau ihre Heimat versinnbildlicht sieht, absolut unakzeptabel. Sie möchte, dass die alte Villa als Treffpunkt dem Ort erhalten bleibt und beginnt ihren stoischen Kampf zum Erhalt.
Katharina Maria Schubert ist eine anerkannte Film- und Theaterschauspielerin, die mit diesem Drama ihr Spielfilmdebüt präsentiert. Sie erzählt sehr genau von den Befindlichkeiten ihrer Figuren. Im Mittelpunkt steht mit Gudrun eine Frau, die sich schwer tut, Emotionen zu zeigen, und damit oft die ihr zugewandten Menschen vor den Kopf stößt. Über die Einzelschicksale hinaus entwirft Schubert aber auch das Gesellschaftsbild von Menschen, die ihren Kompass noch nicht passend ausgerichtet haben und dabei auch wenig Hilfe des Staates erhielten.
Dabei arbeitet die im Westen sozialisierte Schubert fast durchweg mit ostdeutschen Schauspieler:innen zusammen, auch das bewirkt gemeinsam mit der Kameraarbeit des Rumänen Barbu Bălășoiu und dem stimmigen, kargen Setting eine hohe Authentizität. Ein mitunter etwas anstrengender Film, der aber nachwirkt. Und Corinna Harfouch als Sturkopf ist mit ihrem nuancierten Spiel einmal mehr sensationell. Martin Schwarz
D 2021; 107 Min.; R: Katharina Marie Schubert; D: Corinna Harfouch, Birte Schnöink, Peter René Lüdicke, Jörg Schüttauf; Kinostart: 17.2.
Der Pfad
DRAMA Die Mutter hat es noch auf ein Schiff nach Amerika geschafft, doch nach dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich steht ihrem Ehemann, dem regimekritischen Journalisten Ludwig Kirsch (die Rolle übernimmt Volker Bruch, peinlichster Berliner 2021), und dem zwölfjährigen Sohn Rolf diese Möglichkeit nicht mehr offen. 1941 haben sie Marseille erreicht, um von hier aus zu Fuß über die Pyrenäen nach Lissabon zu kommen, wo das Schiff in die Freiheit wartet. Doch als in den Bergen eine deutsche Patrouille auftaucht, sieht der Vater als einzige Möglichkeit, um seinen Sohn zu retten, sich selber den Verfolgern zu ergeben. Werden die gefälschten Papiere der genauen Überprüfung standhalten? Wird man seine Identität herausfinden und ihn in ein Lager stecken?
Diese Fragen überlagern für den Zuschauer den Fortgang der Ereignisse, wenn der Film anschließend auch zu einer Coming-of-Age-Geschichte wird: Ein Großstadtjunge lernt, in der Natur zu überleben, während die gleichaltrige Núria, ihre Bergführerin, vielleicht zum ersten Mal unbeschwerte Kindheitsmomente erleben darf, die sie bisher – als Kind von möglicherweise getöteten Partisanen – nicht hatte. Rolfs Hund mit Namen Adi sorgt für komische Momente; Spannung tritt ein, wenn man nicht weiß, wem man trauen kann. Der zeitgeschichtliche Rahmen gerät dabei in den Hintergrund, das Insert am Ende – „Etwa 82 Millionen Menschen sind heute weltweit auf der Flucht. 34 Millionen davon sind Kinder“ – wirkt etwas gewollt. „Der Pfad“ ist ein Film, der eine wichtige Frage aufwirft: Inwieweit sollte man alle emotionalen Register ziehen, wenn es darum geht, heutigen Kindern Zeitgeschichte zu vermitteln? Frank Arnold
D 2021; 99 Min.; R: Tobias Wiemann; D: Julius Weckauf, Nonna Cardoner, Volker Bruch; Kinostart: 17.2.
Noch einmal, June
DEMENZKOMÖDIE Plötzlich ist June wieder ganz klar. Nach fünf Jahren des dementen Dahinsiechens in einem Pflegeheim weiß die alte Dame, wer sie ist und dass sie hier keinen Tag länger bleiben will. Sie hält das nächste Taxi an und fährt in die Stadt, um nach dem Rechten zu sehen. Dabei dämmert ihr so langsam, dass sich in diesen Jahren einiges verändert hat, der Sohn ist geschieden, hat sein Studium abgebrochen und hält sich stattdessen mit einem Aushilfsjob im Copyshop über Wasser, während im traditionsbewussten Familienunternehmen jetzt ein Mann das Sagen hat, der schnellen Profit über solide Wertarbeit stellt. Das kann June schon in Rage bringen, höchste Zeit also, dass June ihren erwachsenen Kindern zeigt, wo es langgeht. Zunächst aber bedient sie sich großzügig aus dem Kleiderschrank ihres einstigen Hauses und ignoriert dabei, dass diese Sachen der neuen Eigentümerin gehören.
Demenz einmal nicht als Drama (wie zuletzt in „The Father“), sondern als komödiantische Familiengeschichte, in der gleichwohl Dramatisches immer mehr zum Vorschein kommt: die dominierende Mutter, die meint, alles besser zu wissen und die zudem im Lauf der Ereignisse ein Geheimnis aus ihrer Vergangenheit enthüllt. Dabei schwebt die ganze Zeit ein Damoklesschwert über ihr: der Hinweis ihres Arztes, dass ihre neue Klarheit nicht unbedingt von Dauer sei. Weil aber June so ein Energiebündel ist, folgt der Zuschauer ihren Handlungen mit Sympathie, zu der auch das Spiel ihrer Darstellerin Noni Hazlehurst beiträgt. Frank Arnold
AUS 2020; 99 Min; R: JJ Winlove; D: Noni Hazlehurst, Claudia Karvan, Stephen Curry; Kinostart 17.2.
Der Alpinist
DOKU Die Faszination für Menschen, die ungesichert steile Fels- und Eiswände hinaufklettern, hat verschiedene Gründe: die überwältigende Natur, die Bewunderung für das Geschick der Alpinist:innen – und zweifellos auch die unbestreitbare Tatsache, dass diese Leute sich in eine potenziell tödliche Gefahr begeben. Filme über Kletterinnen und Kletterer können den dieser Faszination innewohnenden Widerspruch nicht auflösen, sie haben zwangsläufig immer auch etwas von diesem sensationellen Nervenkitzel.
„Der Alpinist“ porträtiert den 2018 bei einem Lawinenunglück ums Leben gekommenen kanadischen Kletterer Marc-André Leclerc, einen Star-Protagonisten des Solo-Kletterns. Interviews mit ihm, seiner Freundin Brette Harrington (ebenfalls eine Kletterin) und weiteren Alpinist:innen entwerfen das persönliche Psychogramm des Mannes, verdeutlichen aber auch sehr schön, worin für die Protagonist:innen selbst die Faszination ihres Sports besteht: Naturerlebnis und Bewusstseinserweiterung spielen eine Rolle, wichtiger aber ist vielleicht noch, dass man in zumindest einem Aspekt seines Lebens die totale Kontrolle hat. Jedenfalls bis zum Absturz. Die Bilder vom Klettern sind selbstredend ziemlich überwältigend. Lars Penning
USA 2021; 92 Min.; R: Peter Mortimer, Nick Rosen; Kinostart: 17.2.
Was war los in der Vorwoche? Die Filmstarts vom 10. Februar 2022 zeigen wir hier. Wer hat bei den Filmfestspielen überzeugt? Die Berlinale-Bären im Überblick. Immer aktuell: Alles zu Kino und Stream auf tipBerlin im Überblick hier. Ihr wollt wissen, was wann wo läuft? Das Kinoprogramm für Berlin.