Neu im Kino

Die Filmstarts der Woche: Von „First Cow“ bis „Große Freiheit“

Diese Woche gehört vor allem dem Arthouse-Publikum. Das fsk-Kino bringt mit seinem Verleih Peripher einen Höhepunkt des amerikanischen Independent-Kinos heraus: „First Cow“ von der großen Kelly Reichardt. Dazu startet „Große Freiheit“ von Sebastian Meise, ein episches Kammerspiel über Schwule, die ihrer sexuellen Identität wegen ins Gefängnis mussten.

Neben diesen beiden Spitzentiteln gibt es noch spannendes Kino aus Portugal („Jack’s Ride“ lief davor im Forum der Berlinale) und aus der Schweiz (das Drogendrama „Platzspitzbaby“), sowie einen Kinderfilm („Ein Junge namens Weihnacht“), einen Kostümfilm („Eiffel in Love“ über den Ingenieur des Eiffel-Turms), und eine neue Betrachtung zum Mord an John F. Kennedy von – einmal mehr – Oliver Stone. Die Filmstarts der Woche im tipBerlin-Überblick


First Cow

„First Cow“ von Kelly Reichardt ist ein herausragender Western. Bild: peripher

WESTERN Cookie Figowitz hat ein besonderes Talent an einem ungewöhnlichen Ort. Er kann köstliche Süßspeisen zubereiten, und zwar mitten in der Wildnis. In Oregon im 19. Jahrhundert waren ansonsten hauptsächlich Ureinwohner und Pelzjäger unterwegs, die sich erst einmal an die Gaumenfreude eines der „oily cakes“ von Cookie gewöhnen müssen. Allerdings beruht die kulinarische Sensation auf einem Geheimnis. Denn Cookie und sein Gefährte King-Hu, ein Amerikaner mit asiatischem Migrationshintergrund, melken nachts heimlich die „erste Kuh“, die in das abgelegene Territorium eines Kolonialherren importiert wurde. Die Elite schwärmt seither von einem Leben wie in London.

Cookie eignet sich mit der Milch eine Zutat an, die ihm gar nicht zusteht. Kelly Reichardt, die Chronistin des prekären Lebens in Amerika und einer grünen Gegenkultur, hat mit „First Cow“ einen Teil des großartigen Romans „The Half-Life“ von Jon Raymond adaptiert. Das Ergebnis ist ein ganz besonderer Western: eine Pionererzählung, die noch viel von der Zeit vor der „Zivilisation“ weiß, und zugleich deren Ankunft in einem Moment erwischt, in dem auch Außenseiter wie Cookie und King-Hu kurz davon träumen können.

„First Cow“ ist ein herausragender Western von der vielleicht wichtigsten amerikanischen Regisseurin der Gegenwart. Bert Rebhandl

USA 2019; 122 Min.; R: Kelly Reichardt; D: John Magaro, Orion Lee, Ewen Bremner; Kinostart: 18.11.


Große Freiheit

Eine Geschichte über Ausgrenzung: „Große Freiheit“ von Sebastian Meise. Bild: Freibeuter Film

DRAMA 1945, 1957, 1969: In drei verschachtelten Episoden erzählt Sebastian Meise von Hans Hoffmann und Viktor Bix, zwei Männern, die einander immer wieder im Gefängnis begegnen. Hans ist schwul und sitzt wegen „Unzucht“. „Große Freiheit“ erzählt bewegend von Ausgrenzung und Intimität in einer repressiven, homophoben Gesellschaft. Bert Rebhandl

Ö 2021; 117 Min.; R: Sebastian Meise; D: Franz Rogowski, Georg Friedrich, Thomas Prenn; Kinostart: 18.11.

tipBerlin sprach mit „Große Freiheit“-Regisseur Sebastian Meise über Freiheit und Unterdrückung.


Jack’s Ride

„Jack’s Ride“ von Susana Nobre zeigt unter anderem die Odyssee zur Arbeitslosenunterstützung. Bild: Terratreme Films

DOKUFIKTION Am Ende eines langen Arbeitslebens zählt meist nicht mehr, was ein Mensch getan hat. Gezählt werden einfach die Jahre, aus denen sich ein Pensionsanspruch ermisst, der dann häufig enttäuschend ist. Bei Joaquim „Jack“ Calcada, 63, fehlen noch ein paar Jahre. Er will deswegen um Arbeitslosenunterstützung ansuchen, muss dafür aber erst einmal nachweisen, dass er Arbeit sucht. Das ist in Portugal nicht anders als in Deutschland. Susana Nobres Film „Jack’s Ride“ („No táxi do Jack“) erzählt von den Fahrten, die Jack unternimmt, um die entsprechenden Stempel zusammenzubekommen.

Er ist in der Gegend von Alhandra unterwegs, einer Kleinstadt ein wenig nördlich von Lissabon, am Ufer des Tejo. Nobre erzählt aber auch von der abenteuerlichen Biographie dieses eigenwilligen Mannes, der sich ein wenig wie ein Double von Elvis Presley inszeniert, mit Haartolle und Lederjacke. Jack war nämlich lange weg, er ging 1972 nach Amerika, und kam erst zwanzig Jahre später zurück. Er hat damit ein entscheidendes Kapitel der jüngeren portugiesischen Geschichte versäumt, die Revolution 1974 und die anschließende Demokratisierung. Was er hingegen mitbekommen hat, sind die sozialen Probleme, die in der modernen Wirtschaft einfach dazu gehören, wie es scheint.

„Jack’s Ride“ ist ein merkwürdiges Mischwesen. Was auf den ersten Blick aussieht wie ein Dokumentarfilm, erweist sich zunehmend als komplexes Spiel mit Erinnerungen und Einbildungen. Vor allem die Zeit von Jack in Amerika sieht zum Teil aus wie ein Gangsterfilm aus dieser Zeit, und tatsächlich häufen sich Andeutungen über seine Kontakte zum organisierten Verbrechen, aber auch zu großen Stars der Epoche, namenlich wird zum Beispiel Muhammad Ali genannt.

Ob Jack einfach ein Aufschneider ist, oder ob ihm zu viele Kinobesuche in seinem Gedächtnis herumspuken, muss nicht entschieden werden, denn „im Taxi von Jack“ haben sowohl Realismus wie auch Mythologie Platz. Und Susanna Nobre bringt uns einen Menschen näher, vom dem sie zugleich dezidiert offen lässt, ob er vielleicht aus dem frühen Scorsese-Film in eine schnöde Wirklichkeit gefallen ist, oder ob er einfach die Strahlkraft des Kinos in seinen Lebensabend hinein verlängern möchte.

Im Sommer lief „Jack’s Ride“ im Programm des Internationalen Forums des Jungen Films. Einer der spannendsten Filme der diesjährigen Berlinale bekommt nun einen kleinen, hochverdienten Kinostart. Bert Rebhandl

No táxi do Jack (OT); P 2021; R. Susana Nobre; Kinostart: 18.11.


JFK Revisited – Die Wahrheit über den Mord an John F. Kennedy

Ein bescheidener Versuch, den Kennedy-Mord aufzukären: „JFK Revisited“ von Oliver Stone. Bild: DCM

DOKU Die Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy am 22. November 1963 auf offener Straße in Dallas ist so etwas wie ein defekter Rubik-Würfel. Man kann endlos daran herumdrehen, ein stimmiges Gesamtbild wird sich nicht ergeben. Der Verlust eines progressiven Hoffnungsträgers ist von Unklarheiten umgeben, die nicht einmal von Oliver Stone vollständig aufgeklärt werden können, auch wenn der mit seinem neuen Dokumentarfilm „JFK Revisited: Die Wahrheit über den Mord an John F. Kennedy“ das Gegenteil behauptet.

Schon mit seinem Spielfilm „JFK – Tatort Dallas“ (1991) hat er sich an den diversen Verschwörungstheorien abgearbeitet, die den Kennedy-Mord umgeben. Nun rollt er alles noch einmal auf, wobei er in diesem Fall eher den routinierten Moderator bei einem Film macht, der recht deutlich auf die neue Generation des Streaming-Publikums abzielt. Ob JFK von hinten oder von vorn getroffen wurde, wird dabei ebenso eingehend erörtert, wie der Zustand seines obduzierten Gehirns in diversen Stadien nach dem Tod.

Politisch relevant und spannend wird es allerdings erst auf der Ebene, auf der es um die Interessen geht, denen ein vorzeitiges Ende der Präsidentschaft von JFK dienlich war. Da kommt natürlich der Vietnamkrieg ins Spiel, das andere Lebensthema von Oliver Stone, und es wird recht deutlich, dass es – unabhängig von belastbaren Schuldzuweisungen – in Washington ein konservatives Establishment in den politischen Apparaten gab, das jedenfalls nicht um JFK getrauert haben wird. „JFK Revisited“ ist durchaus spannend anzuschauen, die Wahrheit erweist sich wie so oft als flüchtig. Bert Rebhandl

USA 2021; 119 Min.; R: Oliver Stone; Kinostart: 18.11.


Platzspitzbaby

„Platzspitzbaby“ von Pierre Monnard und die Folgen der Sucht. Bild: Alpenrepublik

DRAMA Man könnte ihn als eine Art Schweizer „Kinder vom Bahnhof Zoo“ bezeichnen: Der autobiographische Bericht „Platzspitzbaby“ von Michelle Halbheer, der Basis für Pierre Monnards Film war. Der Platzspitz ist ein unweit des Bahnhofs gelegener Platz in Zürich, wo sich in den 80er Jahren die harte Drogenszene der Schweizer Hauptstadt versammelte. Anfang der 90er Jahre wurde der Platz geräumt und die Szene aufgelöst, doch das Problem war so leicht nicht zu lösen.

Die Süchtigen wurden zurück in ihre Heimatgemeinden geschickt, in beschauliche Dörfer, die mit den Folgen von Sucht kaum umzugehen wussten. Fast vergessen dabei waren die Kinder der Süchtigen, so wie Michelle Halbheer, die im Film Mia (Luna Mwezi) heißt. Elf Jahre ist sie alt, als sie und ihre Mutter Sandrine (Sarah Spale) aus Zürich in ein kleines Städtchen im Zürcher Oberland ziehen. Doch auch hier gibt es Heroin und Koks, Süchtige und falsche Freunde, so dass Sandrine nicht von den Drogen loskommt. Ihren Vater spricht Mia nur gelegentlich am Telefon, stattdessen imaginiert sie sich in Gestalt von Buddy (Delio Malär) einen Vertrauten herbei, der ihr die Nähe und Wärme gibt, die sie von der Mutter nicht bekommt.

Eine ungewöhnliche Coming of Age-Story erzählt Pierre Monnard in „Platzspitzbaby“, ganz aus der Perspektive eines Mädchens, das zwischen Liebe zu seiner Mutter und der langsam wachsenden Erkenntnis, dass diese Mutter sich nicht um sie kümmern kann schwankt. Auch wenn die hochdeutsche Synchronisation arg misslungen ist: Der Kraft der Geschichte kann man sich kaum entziehen, die naturalistische Inszenierung und die überzeugende Hauptdarstellerin tun ihr übriges. Kein Wunder also, dass „Platzspitzbaby“ zu einem der erfolgreichsten einheimischen Filme in der Schweizer Kinogeschichte wurde. Michael Meyns

Schweiz 2020; 100 Min.; R: Pierre Monnard; D: Luna Mwezi, Sarah Spale: Kinostart: 18.11.


Ein Junge namens Weihnacht

Märchen, Märchen, Märchen: „Ein Junge namens Weihnacht“ von Gil Kenan. Bild: StudioCanal

KINDERFILM Weihnachten  mit all seinen Gebräuchen und auch Legenden gehört zu dem, was uns allen vertraut ist – wer käme auf die Idee, dass es nicht immer so war? Nach dem Ansehen dieses Films wissen wir mehr (oder kennen zumindest eine mögliche Erklärung). Der elfjährige Nikolas lebt mit seinem Vater Joel, einem verwitweten Holzfäller, in einem bescheidenen Holzhaus im Wald, als der König eines Tages seine Untertanen zu sich rufen lässt: Freiwillige sollen bis an die Grenzen des Königreiches reisen, um etwas zu finden, was die verlorene Freude und Hoffnung zurückbringen könnte. Nikolas und Joel erinnern sich an die Geschichten von einem magischen Ort namens Wichtelgrund, von dem die Mutter immer wieder erzählte. So bricht Joel mit anderen Männern auf, es zu suchen.

Nikolas, allein gelassen in der Obhut seiner wenig sympathischen Tante, allerdings hält es nicht lange zuhause aus, und er macht sich auf die Suche nach dem Vater, gemeinsam mit seinem besten Freund, der Maus Miika, die sich im Verlauf der Geschichte als sprechendes Wesen zu erkennen gibt. In der grimmigen Kälte des hohen Nordens vom einem Wichtel vor der Erfrieren gerettet, erfährt Nikolas, dass es auch im Wichtelgrund nicht zum Besten steht, denn die Herrscherin Mutter Vodol hat allen Menschen den Kampf angesagt: nur so könnten die Wichtel überleben, denen sie auch das Feiern gerne austreiben möchte. Dagegen rebellieren zunehmend mehr Wichtel, angeführt von Nikolas’ Retter, dem gutmütigen Väterchen Topol.

Wie sich am Ende alles zum Besten wendet, erzählt Regisseur Gil Kenan („Monster House“) auf originelle Weise und ohne die in Weihnachtsfilmen übliche Süßlichkeit. Ein Familienfilm im besten Sinne. Frank Arnold

GB 2021; 103 Min.; R: Gil Kenan; D: Henry Lawful, Toby Jones, Sally Hawkins, Kristen Wiig, Michiel Huisman, Jim Broadbent; Kinostart: 11.11.


Eiffel in Love

„Eiffel in Love“ von Martin Bourboulon. Bild: Constantin

HISTORIENFILM Französischer geht es kaum: ein Film über das bekannteste Wahrzeichen des Landes – den Eiffelturm. Erstaunlicherweise ist hierzulande gar nicht viel über den Erbauer Gustave Eiffel bekannt. Der Ingenieur und Architekt, der auch an der New Yorker Freiheitsstatue arbeitete, sollte im Auftrag der französischen Regierung etwas Außergewöhnliches für die Weltausstellung 1889 in Paris konstruieren. Doch die Erbauung des Turms war alles andere als selbstverständlich, und Eiffel musste große Mühen aufbringen, um die Finanziers und die Öffentlichkeit von dem gigantischen Plan zu überzeugen.

Während das Kostüm-und Setdesign in diesem Historiendrama gefällt, offenbart die Liebesgeschichte eine große Schwäche: Die Chemie zwischen Eiffel und seiner Jugendliebe Adrienne Bourgès (Emma Mackey) stimmt nicht, was sicher auch am Altersunterschied von 20 Jahren liegt. Hier driftet die Geschichte ins Melodram ab, Schwung kommt erst wieder auf, als der Bau des Eiffelturms beginnt und der Traum zwischen Materialproblemen und Arbeiterstreiks auf harte Realität trifft. Leider wird der besonders schwierige Teil des extremen Höhenbaus und dessen Konsequenzen (,,Bauarbeiter müssen schwindelfrei sein!”) zu wenig gezeigt. Nora Stavenhagen

F/D 2021; 108 Min.; R: Martin Bourboulon; D: Romain Duris, Emma Mackey, Pierre Deladonchamps; Kinostart: 18.11.


Mehr zum Thema

Alles über Kino und Streaming auf der tipBerlin-Webseite im Überblick ist hier; zu dem aktuellen Filmfestival „Afrikamera“ haben wir einen Hinweis geschrieben; die afghanische Regisseurin Shahrbanoo Sadat („Kabul Kinderheim“) lebt jetzt in Berlin – wir haben mit ihr ein sehr ausführliches Gespräch geführt; und hier haben wir noch die Filmstarts der Vorwoche.

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