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Neu im Kino

Filmstarts der Woche: Von Annie Ernaux bis „Was man von hier aus sehen kann“

Die letzten Filmstarts im Jahr 2022: Die Woche zwischen den Jahren wird im Kino vor allem für Arthouse-Produktionen genützt (die Leinwände werden nach wie vor von „Avatar – The Way of Water“ dominiert): Die französische Nobelpreisträgerin Annie Ernaux hat ihr privates Filmarchiv geöffnet, und aus Deutschland kommt die Verfilmung eines Bestsellers von Mariana Leky („Was man von hier aus sehen kann“). Diese und weitere Filmstarts der Woche im tipBerlin-Überblick.


Annie Ernaux – Die Super 8-Jahre

„Annie Ernaux – Die Super 8-Jahre“ von Annie Ernaux und David Ernaux-Briot. Foto: Film Kino Text

HOME MOVIES Im Winter 1972 kauft sich das junge Ehepaar Ernaux eine Super-8-Kamera mit allem Drum und Dran. Gute zehn Jahre später, als Annie und Philippe sich trennen, wird der Mann die Kamera in sein neues Leben mitnehmen, und die Frau wird nicht nur die beiden, mittlerweile zu Teenagern herangewachsenen Söhne Eric und David, sondern auch Projektor, Leinwand und Filmrollen behalten. Der Mann macht die Frau zur „Hüterin der Erinnerung“, wie es im von eben dieser Frau geschriebenen und eingesprochenen Voiceover heisst. „Annie Ernaux – Die Super-8 Jahre“, für den die in diesem Jahr mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete französische Schriftstellerin gemeinsam mit ihrem Sohn David verantwortlich zeichnet, dauert eine knappe Stunde, umfasst kaum ein Jahrzehnt, reicht dafür aber tief in die Vergangenheit sowie in die mit ihr verknüpften biografischen, soziologischen, politischen Bedeutungsräume.

Traditioneller Lebensentwurf: „Annie Ernaux – Die Super 8-Jahre“

Gemeinsam mit ihrem Mann unternimmt die junge Lehrerin und Mutter in den 1970er- und frühen 1980er- Jahren unter anderem Reisen ins Chile Salvador Allendes, ins Albanien Enver Hoxhas, ins sowjetische Moskau. Es ist die Zeit, in der sie sich als Schriftstellerin findet, ihr schreiberisches Selbstverständnis entwickelt, ihr erstes Buch veröffentlicht. Das Scheitern der Ehe, so die 1940 geborene Ernaux in ihrem von heute aus formulierenden, für sie typisch zwischen Analyse und Beschreibung wechselnden Kommentar, sei unvermeidlich gewesen. Denn die Zeiten waren, wie sie waren, und die Künstlerin, wie zu sehen ist, war gefangen in einem nach traditionellen Muster organisierten Lebensentwurf. Aus dem sie sich dann aber doch befreit hat – und dies ist nicht die geringste Erkenntnis. Alexandra Seitz

F 2022; 62 Min.; R: Annie Ernaux & David Ernaux-Briot; Kinostart: 29.12.

Was man von hier aus sehen kann

„Was man von hier aus sehen kann“ von Aron Lehmann. Foto: Studiocanal

DRAMA Von einem Okapi träumen ist gefährlich, das lernt Luise (Luna Wedler) schnell und schmerzhaft. Sie ist die Hauptfigur in Aron Lehmanns Verfilmung des Bestsellers von Mariana Lekey, der bundesrepublikanische Befindlichkeiten mit ein wenig magischem Realismus und ganz viel „Die fabelhafte Welt der Amelié“ vermischt. Alles ist auf scheinbar magische Weise verbunden, in dem kleinen, schrulligen Dorf im Westerwald, in dem „Was man von hier aus sehen kann“ spielt. Jeder kennt hier jeden, vom Optiker (Karl Marcovics) über die ständig schlecht gelaunte Marlies (Rosalie Thomass) bis zu Selma (Corinna Harfouch), Luises Oma, die Okapi-Träumerin.

Die ständige Furcht vor Katastrophen scheint die Bewohner an- und umzutreiben, die Angst, dass die Dinge sich nicht so entwickeln könnten, wie man es sich vorstellt. Passend dazu treibt sich eine buddhistische Gebetsgruppe im Dorf und dem umliegenden Wald herum und hat vielleicht Antworten auf Fragen, die gerade Luise sich kaum zu stellen traut. Denn sie hat ebenfalls eine besondere Eigenschaft: Denkt sie an etwas, dass sie nicht wirklich glaubt, fällt etwas herunter, ein Lügendetektor der besonderen Art.

Zwischen verspielt und melancholisch inszeniert Aron Lehmann das Geschehen, zwischen skurril und kitschig. Eine ganze Weile braucht „Was man von hier aus sehen kann“, um zu sich selbst zu finden, bewegt sich lange zwischen den Genres, schwankt in der Tonalität, bis er zum Ende doch noch eine zwar sentimentale, aber auch anrührende Liebesgeschichte wird. Michael Meyns

D 2022; 103 Min.; R: Aron Lehmann; D: Luna Wedler, Corinna Harfouch, Karl Markovics; Kinostart: 29.12.

The Most Beautiful Boy in the World

„The Most Beautiful Boy in the World“ von Kristina Lindström & Kristian Petri. Foto: missingFILMS

DOKU Tadzio hieß der androgyne Jüngling mit den blonden Locken, dem der alternde Komponist Gustav von Aschenbach in Thomas Manns Roman „Tod in Venedig“ verfiel. 1971 wurde die Imagination Körper, in Luchino Viscontis Verfilmung bekam Tadzio ein Gesicht, das eines 15-jährigen Jungen aus Stockholm. Björn Andrésen wurde über Nacht zum Star. Fast 50 Jahre später ist Andrésen ein Mann mit weißen langen Haaren und ebensolchem Vollbart, der in einem kleinen, vermüllten Apartment in Stockholm lebt. Was nach einem radikalen Absturz aussieht, differenziert sich im Lauf von 94 Minuten.

Vielleicht brauchte es so lange, bis man im zeitlichen Abstand einiges anders sieht: die Aufforderung Viscontis, sich bei den Probeaufnahmen mit nackten Oberkörper zu zeigen, irritiert den Jungen sichtlich. Er erzählt vom Besuch eines Schwulenclubs nach den Dreharbeiten, wo ihn alle umschwärmen, und davon, dass er 1976 in Paris reiche Gönner fand, die ihn für seine Gesellschaft bezahlten. Und wir erfahren etwas von einer schwierigen Kindheit mit einer bohemienhaften Mutter, die Selbstmord beging. Das Drama setzt sich fort mit dem frühen Kindstod seines neugeborenen Sohnes 1984, für den Björn Andrésen sich – damals drogen- und alkoholabhängig – verantwortlich macht. Am Schluss besucht ihn seine Tochter in seiner Wohnung, das immerhin wirkt versöhnlich.

Aus neuen und alten Interviews, Home Movies aus seiner Kindheit sowie von Casting und Dreh zu „Tod in Venedig“ entwickelt „The Most Beautiful Boy in the World“ eine dichte Erzählung, bei der gleichwohl einige Leerstellen bleiben, zumal was den dreijährigen Exklusivvertrag anbelangt, den Visconti mit ihm abschloss. Ein „one film wonder“ ist Andresen allerdings nicht: neben einem Auftritt in Ari Asters „Midsommar“ (im Film zu sehen) konnte man ihn – auch im deutschen Fernsehen – zuletzt in Krimiserien wie „Jordskott“, „Springflut“ und „Agatha Christies Hjerson“ sehen. Ein Überlebender. Frank Arnold

Schweden 2021; 94 min.; R: Kristina Lindström & Kristian Petri; Kinostart: 29.12.

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