Diese Woche holen die Kinos kurz Luft vor Weihnachten (und vor „Avatar“). Es starten nicht so viele Filme wie sonst, dafür aber hochkarätige. Maria Schraders Oscar-Kandidat „She Said“ steht im Mittelpunkt. Außerdem ein französischer Film mit der wunderbaren Léa Seydoux („An einem schönen Morgen“), und Noah Baumbauchs Romanverfilmung „Weißes Rauschen“, den Netflix vor dem Streamingstart noch ein wenig auslüftet. Die Filmstarts der Woche vom 8. Dezember 2022 im tipBerlin-Überblick.
She Said
DRAMA Der amerikanische Filmproduzent Harvey Weinstein hatte seine beste Zeit in den 1990er-Jahren, als er unter anderem mit „Pulp Fiction“ und „Shakespeare in Love“ einige der größten Erfolge des sogenannten Independent-Kinos zu verzeichnen hatte. Wie wir inzwischen wissen, war seine Karriere aber auch bestimmt von sexuellem Fehlverhalten bis hin zur Vergewaltigung, und zwar in seriellem Ausmaß. Oft erkaufte er sich danach das Schweigen seiner Opfer.
Faszination für das Zeitungswesen: „She Said“ von Maria Schrader
In Maria Schraders „She Said“ wird die Geschichte eines Strangs der Aufdeckung dieses Verbrechens erzählt. Zwei Journalistinnen der New York Times versuchen, Frauen und auch einige Männer davon zu überzeugen, dass sie nicht länger schweigen sollen – auch wenn sie sich durch Unterschrift dazu verpflichtet haben. Carey Mulligan (als Megan Twohey) und Zoe Kazan (als Jodi Kantor) spielen die Hauptrollen in einem Film, der von unverkennbarer Faszination für das klassische Zeitungswesen geprägt ist, und der zugleich die Vorgeschichte eines der folgenreichsten Medienereignisse der jüngeren Vergangenheit in einen Thriller verwandelt: #metoo hing unter anderem an dem Artikel, der hier recherchiert wird und dann auch hieb- und stichfest gemacht werden muss.
Für Maria Schrader ist „She Said“ die erste Regiearbeit in Amerika. Sie hat ihr durchaus im positiven Sinn einen Stempel aufgedrückt. Besonders gutes Gespür hat sie für die Besetzung der einen oder anderen Nebenrolle, so zum Beispiel hat Zach Grenier eine markante Viertelstunde. Auch das private Leben der beiden Reporterinnen wird nicht übersehen, sodass man insgesamt den Eindruck eines großzügig erzählten Films bekommt, eines Films, der sich Zeit nimmt und der dem Vertrauen in die liberale Presse eine fast schon in einem guten Sinn altmodisch anmutende Gestalt gibt. Eine Recherche um ein dunkles Zentrum, von der „She Said“ vor allem eine Tugend hervorhebt: Beharrlichkeit. Bert Rebhandl
USA 2022; 128 Min.; R: Maria Schrader; D: Carey Mulligan, Zoe Kazan, Patricia Clarkson; Kinostart: 8.12.
An einem schönen Morgen
DRAMA Sandra ist 35 Jahre alt und bereits seit fünf Jahren Witwe. Sie kümmert sich um ihre achtjährige Tochter Linn und arbeitet als Übersetzerin und Simultandolmetscherin. In diesem Abschnitt ihres Lebens hat Sandra (Léa Seydoux) vor allem zwei Dinge zu bewältigen: den langsamen Abschied von ihrem Vater Georg (Pascal Greggory), einem aus Wien stammenden ehemaligen Philosophie-Professor, der in eine Demenz abgleitet. Sowie eine stürmische neue Liebe mit Clément (Melvil Poupaud), einem alten Bekannten, die sich aufgrund von Cléments Bindungen an Frau und Kind als nicht ganz unkompliziert erweist.
Menschen, deren Lebenswelten sich neu arrangieren, stehen immer wieder im Zentrum der Filme von Mia Hansen-Løve. Manche dieser Figuren, wie die Drehbuchautorin Chris in „Bergman Island“ (2021), suchen aktiv die Veränderung, andere wiederum werden davon überrascht und müssen sich eher widerwillig an neue Situationen anpassen. Hansen-Løve erzählt konzentriert und mit sanfter Wärme von ganz vielen Alltagsbegebenheiten, die beharrlich gleichrangig nebeneinander stehen. Die Weigerung, einem der Handlungsstränge einen Vorrang zu geben und einen Besuch im Pflegeheim letztlich genauso zu behandeln wie einen Ausflug mit dem Kind zum Rudern auf dem Teich im Park, macht den Film auf eine sehr angenehme Weise lebensnah und auch nahbar. Am besten kann man die Haltung der Regisseurin dabei vielleicht mit dem Verweis auf den Titel eines Buches der Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach beschreiben, der hier an einer Stelle einmal erwähnt wird: „Alle Wege sind offen.“ Lars Penning
F 2022; 112 Min.; R: Mia Hansen-Løve; D: Léa Seydoux, Pascal Greggory, Melvil Poupaud; Kinostart: 8.12.
Weißes Rauschen
LITERATURVERFILMUNG Die Angst vor dem Tod ist in der Patchworkfamilie von Jack mit Ehefrau Babette (Greta Gerwig) und vier Kinder verschiedenen Alters und aus verschiedenen Beziehungen geradezu obsessiv präsent: Jack selbst ist Professor für Hitler-Studien an einem kleinen College im Mittleren Westen, für einen geplanten Vortrag lernt er gerade Deutsch (stellt sich nur die Frage, wohin ihn Sätze wie „Ich esse meinen Kartoffelbrei“ führen werden), während Babette abhängig von einem möglicherweise vollkommen wirkungslosen Experimental-Psychopharmakon namens Dylar geworden ist, das die Angst vor dem Tod nehmen soll und für dessen Erhalt sie sich beim dubiosen Dealer Mr. Shell (Lars Eidinger) prostituiert.
Leuchtende Konsumtempel: „Weißes Rauschen“ von Noah Baumbach
Der 1985 erschienene Roman „Weißes Rauschen“ („White Noise“) von Don DeLillo, einem der bedeutendsten Autoren der amerikanischen Postmoderne, ist eine satirische Dystopie, in der sich hemmungsloser Konsum, Placebo-Drogen und die ständige Jagd nach Sensationen als Betäubungsmittel erweisen, um über die wichtigen Fragen des Daseins nicht nachdenken zu müssen: alles vereint in einem ständigen, bedeutungslosen Lärm, dem Weißen Rauschen. Es war die Reagan-Ära, mit ungebremstem neoliberalem Kapitalismus und einem letzten Höhepunkt des Kalten Kriegs.
Dass Regisseur Noah Baumbach sich nun an die Verfilmung dieses fast 40 Jahre alten Buches (das immer als unverfilmbar galt) gewagt hat, zeigt vor allem, dass die Geschichte nichts an Aktualität eingebüßt hat, sondern in Zeiten aktueller Krisen, Medien- und Konsumexzesse womöglich eher noch virulenter ist als zuvor. Man könnte auch sagen: Es ist genauso gekommen, wie von DeLillo beschrieben und vorhergesagt. Baumbach und seine Crew rekonstruieren die 80er-Jahre von absurd leuchtenden Konsumtempeln bis zu den charakteristischen Big-Hair-Frisuren genau – doch zugleich hat man nie das Gefühl, hier einen Historienfilm zu sehen. Der Film galoppiert durch verschiedenste Filmgenres – Alltagssatire, Katastrophen- film, Beziehungsdrama, Krimi –, fällt dabei gelegentlich auch auseinander und wird dann doch irgendwie wieder zusammengehalten von einer nicht unerheblichen Portion sympathischen Irrsinns sowie dem konsequent satirischen Tonfall, der hier für Amüsement sorgt. Lars Penning
USA/GB 2022; R: Noah Baumbach; D: Adam Driver, Greta Gerwig, Don Cheadle; Kinostart: 8.12.
Immer auf dem neuesten Stand: Das tägliche Kinoprogramm für Berlin. In der Vorwoche empfahlen wir den Film „Sonne“ – mit der spannenden Regisseurin Kurdwin Ayub haben wir ein Interview. Berlin ist Serienstadt, und zwar schon lange: Wir lassen 12 Klassiker noch einmal Revue passieren. Die Filmstarts der Woche vom 1. Dezember und vieles mehr haben wir immer unter der Rubrik Kino & Stream versammelt.