Für seinen Animationsfilm „Flow“ hat der lettische Regisseur Gints Zilbalodis nicht nur einen Golden Globe, sondern gerade auch einen Oscar gewonnen. tipBerlin-Kritikerin Paula Schöber hat den beeindruckenden und dialoglosen Film über eine Katze, die nach einer verheerenden Flut lernen muss, mit anderen Tieren zusammenzuleben, gesehen und mit dem jungen Regisseur gesprochen.

„Flow“-Regisseur Gints Zilbalodis: „Ich wollte die Geschichte aus der Sicht der Katze erzählen“
tipBerlin Herr Zilbalodis, wie kamen Sie auf die Idee zu „Flow“?
Gints Zilbalodis Als Schulkind hatte ich eine Katze, die mich zu meinem Kurzfilm „Aqua“ inspiriert hat. Das war ein einfacher, handgezeichneter Film, aber Jahre später habe ich beschlossen, „Aqua“ zu einem Spielfilm zu erweitern. Ich habe einen Haufen verschiedener Tiere hinzugefügt, mit denen die Katze zusammen diese Flut übersteht. In „Flow“ sprechen die Tiere nicht, sie laufen nicht auf zwei Beinen und erzählen keine Witze. Sie verhalten sich größtenteils wie echte Tiere, deswegen konnte ich sie nicht einfach ihre Gedanken erklären lassen, sondern ich muste mir etwas einfallen lassen, um diese Ideen anders zu vermitteln, und ich glaube, das zwingt mich zu mehr Kreativität.
tipBerlin Sie erzählen „Flow“ aus der Perspektive einer Katze. Wieso?
Gints Zilbalodis Ich wollte die Geschichte aus der Sicht der Katze erzählen und das Gefühl vermitteln, dass der Zuschauer selbst die Katze ist, dass man alles aus ihrer subjektiven Sicht erlebt. Ich finde, das macht es emotionaler und fesselnder, als wenn man es aus seiner eigenen, menschlichen Sicht sieht, weil wir schon so viele Geschichten aus der Sicht von Menschen gesehen haben. Aber aus Katzen-Sicht erscheint alles viel größer, beängstigender und emotionaler.
tipBerlin Wie haben Sie die anderen Tiere ausgewählt, zum Beispiel den Sekretärsvogel oder das Capybara? Warum diese spezifischen Tiere?
Gints Zilbalodis Jedes von ihnen musste sehr markant sein, ihre Silhouetten und ihre Stimmen mussten einzigartig sein. Ich wollte, dass man sich mit jedem der Tiere identifizieren kann, und es sollte keinen Bösewicht im Film geben. Die Tiere sind alle irgendwie unvollkommene Charaktere, aber wir verstehen, warum sie tun, was sie tun. Katzen und Hunde kennen die meisten Menschen sehr gut, deshalb mussten wir genau darauf achten, wie wir sie darstellen. Die Zuschauer würden sofort erkennen, wenn gewisse Eigenschaften nicht korrekt dargestellt sind. Mit dem Lemuren, dem Capybara und dem Sekretärsvogel hatten wir ein bisschen mehr Freiheit.
tipBerlin Haben Sie das Verhalten dieser Tiere vorher studiert, zum Beispiel mithilfe von Tier- und Naturdokus?
Gints Zilbalodis Ja! Wir haben uns viele Katzen- und Hundevideos angeschaut, unsere eigenen Haustiere gefilmt, sind in den Zoo gegangen und haben auch die Stimmen echter Tiere aufgenommen. Ich wusste gar nicht, dass zum Beispiel die Stimmen von Katzen jeweils sehr unterschiedlich sind: Jede Katze hat eine andere Stimme, und man kann nicht einfach viele verschiedene Katzen aufnehmen. Man muss sich meistens auf eine einzelne Katze konzentrieren. Wir haben außerdem keine menschlichen Stimmen aufgenommen, um Tiere zu imitieren.
tipBerlin Sie haben die Geräusche also nicht am Computer erstellt, sondern echte Tierstimmen aufgenommen?
Gints Zilbalodis Ja, wir haben viel Zeit mit dem Ton verbracht, mit unserem Sounddesigner Gurwal Coïc-Gallas. Er wollte sich mit dem Sounddesign nicht hinter Dialogen verstecken. Manchmal konnte er sich nicht einmal hinter der Musik verstecken, denn es gibt lange Szenen ohne Musik. Für den Sounddesigner war es eine Menge Arbeit, mehr als sonst. Außerdem gibt es einige Szenen ohne Sounddesign und nur mit Musik. Bei den meisten Filmen dauert das nur ein paar Wochen, aber wir haben mehr als ein halbes Jahr am Sound gearbeitet. Es war also wirklich sehr kompliziert.
Wir müssen den Film nicht übersetzen. Er kann von allen Menschen mit unterschiedlichen Kulturen und auch in unterschiedlichen Altersgruppen verstanden werden
Gints Zilbalodis
tipBerlin Alle Ihre Filme kommen ohne Dialoge aus. Was gefällt Ihnen am dialoglosen Erzählen?
Gints Zilbalodis Ich bin gefragt worden, ob es nicht eine Herausforderung ist, Geschichten ohne Dialoge zu erzählen, aber für mich ist es eine größere Herausforderung, Geschichten mit Dialogen zu erzählen. Bei Filmen erinnere ich mich immer eher an die Bilder als an die Worte, und einige meiner Lieblingsszenen sind ohne Dialog. Es ist außerdem toll, dass wir den Film nicht übersetzen müssen. Er kann von allen Menschen mit unterschiedlichen Kulturen und auch in unterschiedlichen Altersgruppen verstanden werden.
tipBerlin Alle Ihre Filme sind Animationsfilme. Wie würden Sie Ihren persönlichen Animationsstil beschreiben?
Gints Zilbalodis Mein Stil entwickelt sich immer weiter. Normalerweise verwendet man im Animationsbereich Storyboards, also eine handgezeichnete Version des Films. Aber anstatt Storyboards zu verwenden, habe ich diesen Animationsfilm direkt mit 3D-Technik kreiert, weil ich die Kamera bewegen und als eine Art Erzählwerkzeug einsetzen wollte. Es soll wirken, als würde ein echter Kameramann den Tieren folgen, und das kann man nicht zeichnen, weil sich die Perspektive so sehr ändert. Man kann das nur mit 3D-Technik erzeugen. Was den Look des Films angeht, bin ich nicht daran interessiert, ein hyperreales Bild zu zeichnen. Ich glaube, wenn man es abstrakter und stilisierter darstellt, wirkt es realer und fesselnder.
tipBerlin Für „Flow“ haben Sie zum ersten Mal mit einem Team zusammen und nicht alleine gearbeitet. Wie haben Sie dieses Team aufgestellt und wie war die Zusammenarbeit?
Gints Zilbalodis Die Geschichte des Films ist sehr persönlich für mich, weil ich, genau wie die Katze, lernen musste, zusammenzuarbeiten und anderen zu vertrauen. Meinen ersten Film habe ich selbst gedreht, und bei „Flow“ wollte ich meine Arbeitsweise nicht komplett ändern. Ich war also immer noch in alle Prozesse involviert. Mein Ziel ist es, mit jedem neuen Film ein bisschen mehr zu delegieren. Unabhängige Filmemacher haben oft einen kleinen Film und machen später einen großen Studiofilm; dann besteht die Gefahr, dass man als Filmemacher seinen eigenen Weg verliert, seine Stimme, und irgendwie wird man auf einmal Teil dieser großen Maschine. Diesen Übergang möchte ich deshalb langsam gestalten, indem ich jeden Film ein bisschen größer mache und ein bisschen mehr delegiere. So kann ich immer noch meine persönliche Stimme bewahren.
tipBerlin Wie lange hat die Produktion von „Flow“ insgesamt gedauert?
Gints Zilbalodis Der ganze Prozess dauerte fünf Jahre. Für einen Animationsfilm ist das eine ziemlich durchschnittliche Zeit. Der Animationsprozess dauerte nur etwa sechs Monate, was für einen animierten Film sehr schnell ist. Ich hatte dabei das Gefühl, nie genug Zeit zu haben. Bei Animationen kann man immer etwas verbessern, aber irgendwann muss man das Optimieren einfach aufgeben und das Resultat akzeptieren.
tipBerlin Während der Corona-Pandemie war es vermutlich einfacher, einen Animationsfilm zu drehen als einen Realfilm mit echten Schauspielern?
Gints Zilbalodis Auf jeden Fall. Ich habe noch nie einen großen Live-Action-Film gedreht, aber ich war sehr glücklich, dass ich am Anfang des Prozesses allein war. So musste ich mir keine Sorgen machen, während der Pandemie andere Leute zu treffen. Und als wir zum intensiven Teil der Produktion kamen, war es bereits 2023. Da war also alles schon relativ offen und sicher. Wir hatten großes Glück, dass wir die Corona-Pandemie irgendwie überstanden haben.
tipBerlin Sie haben noch nie einen Realfilm gedreht. Haben Sie das einmal vor oder bleiben Sie vorerst bei Animationsfilmen?
Gints Zilbalodis Zuallererst möchte ich einfach Filme machen, grundsätzlich jede Art von Filmen. Aber ich habe das Gefühl, dass ich beim Animationsfilm mehr Freiheit habe. „Flow“ ist eine Geschichte, die wegen des Wassers und der Tiere nur als Animationsfilm gemacht werden konnte. Wenn sich aber eine passende Geschichte ergeben sollte, wäre ich daran interessiert, sie als Realfilm mit Schauspielern zu drehen. Also ja, ich möchte mich irgendwann selbst herausfordern und einen Live-Action-Film drehen.
Regisseur Gints Zilbalodis: „Flow“ ist eine Geschichte, die wegen des Wassers und der Tiere nur als Animationsfilm gemacht werden konnte
tipBerlin Wasser spielt eine große Rolle in „Flow“. Wie ist Ihre persönliche Beziehung zum nassen Element?
Gints Zilbalodis Das war mir gar nicht so bewusst, aber mir wurde gesagt, dass das Wasser auch ein wichtiges Element in meinem ersten Film „Away“ ist. Wir haben das Wasser genutzt, um die Emotionen auszudrücken, die die Figuren empfinden, und das ist technisch sehr anspruchsvoll. Deswegen werde ich versuchen, Wasser in meinem nächsten Film zu vermeiden, weil wir so viel Kopfzerbrechen damit hatten. In der Animation ist es eines der schwierigsten Dinge, die man machen kann. Aber ja, Wasser kann so viele verschiedene Dinge sein. Es kann beängstigend sein. Es kann schön und friedlich sein. Die Flut in „Flow“ ist nicht nur Zerstörung, sondern auch ein Neuanfang. Wir sehen, wie sich die Natur in „Flow“ die Räume zurückerobert.
tipBerlin Die Flut wirkt zunächst sehr bedrohlich für die Tiere. Steckt darin auch eine Warnung vor dem Klimawandel?
Gints Zilbalodis Ja, ich denke, so könnte man es sehen. Am Anfang stand für mich nicht wirklich eine Botschaft. Ich beginne Geschichten immer mit einer Figur und einem Gefühl. In diesem Fall waren es die Katze und ihre Angst vor Wasser. Das hat sich ganz organisch zu einer Geschichte über eine Flut entwickelt, die die Welt verwüstet. Wenn man mit einem Appell beginnt, kann es zu belehrend und didaktisch werden, das wollte ich vermeiden. Wir sehen in diesem Film keine Menschen. Wir fragen uns, was mit ihnen passiert ist. Und meine Interpretation ist, dass die Menschen vielleicht von dieser Flut wussten und rechtzeitig vor ihr geflohen sind, die Tiere aber sich selbst überlassen haben. Bei einer Katastrophe im wirklichen Leben werden meistens auch die am wenigsten Privilegierten sich selbst überlassen, und die Privilegierten können sich der Katastrophe entziehen. Diese Flut kann aber als Metapher für jede Art von Katastrophe gelesen werden, sie kann zum Beispiel für ein schlimmes persönliches Ereignis im Leben stehen. Ich wollte, dass das für die Interpretation jedes Einzelnen offen bleibt.
- Flow Lettland/Frankreich/Belgien 2024; 84 Min.; R: Gints Zilbalodis; Kinostart 6.3.
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