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Porträt

„Grand Jeté“-Regisseurin Isabelle Stever über einen der radikalsten Filme 2022

Mit ihrem neuen Film „Grand Jeté“ erzählt Isabelle Stever von einer Balletttänzerin, die eine Beziehung mit ihrem Sohn beginnt, den sie als kleines Kind zu ihrer Mutter gegeben hatte. Mit ihrem Umgang mit einem Tabuthema wagt die Regisseurin tatsächlich so etwas wie einen „großen Sprung“ über die Moral hinaus in eine anstößige Autonomie. tipBerlin-Filmkritiker Bert Rebhandl hat sich mit Isabelle Stever getroffen.

„Grand Jeté“ von Isabelle Stever. Foto: Little Dream Pictures

„Grand Jeté“: Überraschend und verstörend

Ballett ist eine grausame Kunst. Wer auf Zehenspitzen tanzt, wirkt federleicht, aber das Gewicht hinterlässt trotzdem seine Spuren, in den Füßen, in den Gelenken, in einem Körper, der vor Disziplin irgendwann zu erstarren droht. Nadja, die zentrale Figur in Isabelle Stevers Film „Grand Jeté“, ist von dieser Phase noch ein Stück weit entfernt. Sie tanzt nicht mehr aktiv, aber sie unterrichtet, und sie hat von der jahrzehntelangen Arbeit an ihrer Haltung immer noch so viel Kraft, dass sie einschüchternd auf andere Menschen wirkt. Nadja ist nicht einsam, aber sie ist vor allem für sich.

Man fragt sich, wer ihr vielleicht nahekommen könnte, wer ihre innere wie äußere Distanz überwinden könnte. „Grand Jeté“ gibt darauf eine überraschende, auch verstörende Antwort. Im Ballett bezeichnet dieser Begriff einen „großen Sprung“, man hebt auf einem Bein ab, und landet auf dem anderen, muss dort die Energie, die in den Sprung geht, auch wieder abfedern.

„Grand Jeté“ nach Anke Stellungs Roman „Fürsorge“

Für Nadja wird die Begegnung mit ihrem Sohn Mario zu einem solchen großen Sprung, bei dem im Idealfall die Momente in der Luft wie eine Ewigkeit wirken, wie eine Zeit nach eigenem Gesetz. Mario hat sein ganzes Leben bei der Großmutter verbracht, er kennt Nadja kaum, nun ist sie plötzlich da, bei einem Geburtstagsfest, und ohne viele Umschweife kommen Mutter und Sohn einander näher. Isabelle Stever geht bei „Grand Jeté“ von dem Roman „Fürsorge“ von Anke Stelling aus, erschienen 2017. Wenn man allerdings das Buch zu lesen beginnt, stößt man dort auf eine merkwürdige Präambel: es wurde nämlich „im Auftrag“ von Isabelle Stever geschrieben. Wie ist das zu verstehen?

Anna Melikova (Drehbuch) und Isabelle Stever, Regisseurin von „Grand Jeté“. Foto: privat

„Grand Jeté“ von Isabelle Stever hat eine lange Vorgeschichte

Ein Besuch bei der Berliner Filmemacherin in Schöneberg soll Aufklärung bringen. Isabelle Stever lebt hier mit ihrer Frau Anna Melikova, die das Drehbuch zu „Grand Jeté“ geschrieben hat. Es stellt sich heraus, dass dieses Projekt eine lange Vorgeschichte hat. „2007 hat eine Schauspielerin, Franziska Petry, mir ein Treatment gegeben, eine Geschichte von einer Mutter, die mit ihrem Sohn ein Verhältnis eingeht. Etwas an dieser Geschichte hat mich irritiert“, erzählt Isabelle Stever. „Diese Irritation hat mich interessiert, daraus einen Film zu machen. Ich wurde damit nicht fertig als Autorin, also habe ich Anke Stelling den Text gegeben mit einem Statement von mir.“

Stever, die Mathematik an der TU und danach Film an der DFFB studiert hat und seit vielen Jahren in Berlin lebt, und Anke Stelling, seit 1991 in Berlin, kennen einander seit den frühen 2000er-Jahren. Damals arbeiteten sie gemeinsam an „Gisela“, auch das eine Geschichte, die als Text und als Film existiert. „Anke Stelling hat zu der Idee von diesem Mutter-Sohn-Verhältnis ein Exposé von drei Seiten geschrieben, das sehr krass war und mich erschrocken zurück ließ. Doch erschien mir das die geeignete Form mit dem Stoff umzugehen. Ich gab ihr den Auftrag, einen Roman zu schreiben, ich fand, so schreibt sie filmischer als bei einem Drehbuch. Sie hat dann einen tollen, aber wie mir schien, unverfilmbaren Roman geschrieben, ein bisschen wie bei ,Lolita‘ von Nabokov: die Sprache hat eine starke Ironie und macht das trostlose oder entsetzliche Geschehen ertragbar.“

Wobei die Sache mit Nadja und Maria nichts Trostloses oder gar Entsetzliches hat. Höchstens etwas Unbehagliches in der Weise, wie hier zwei Menschen aufeinander treffen, die beide auf ihre Weise Körper extrem ernst nehmen. Anna Melikova fand zu diesen Facetten leicht Zugang: „Bei Ballett kenne ich mich aus, diese Strenge mit dem eigenen Körper, diese Kontrolle, das ist mir nicht fremd. Und dann diese Grenzüberschreitung, auch was Sexualität angeht. Ich, als lesbische Frau, habe damals, als ich das Drehbuch geschrieben habe, in Russland gewohnt, wo öffentlich gelebte homosexuelle Liebe verboten ist.“

Sarah Nevada Grether und Emil von Schönfels in „Grand Jeté“ von Isabelle Stever. Foto: Little Dream Pictures

Ohne Anna, sagt Isabelle Stever, wäre „Grand Jeté“ nichts geworden, ihre Begegnung im Jahr 2015 (bei einem Interview) erwies sich als entscheidend in mehrfacher Hinsicht. Gemeinsam fanden sie einen Weg zu diesem so leicht missverständlichen Thema, das mit dem Schlagwort Inzest gar nicht unbedingt präzise getroffen wird. „Es ist ein Film über Nadjas Körper, über die Bedürfnisse ihres Körpers und sein Überleben“, betont auch Isabelle Stever.

„Meine Filme sind sehr verschieden, aber es steht immer eine auf eine gewisse Art unkorrumpierbare Frauenfigur im Zentrum. Ich möchte einer Frau zuschauen, die sich einfach Dinge nimmt. Es ist interessant, dieses Bild in unsere Gesellschaft zu setzen. Und dann das Muttersein. Für dieses Wort gibt es kaum einen Atem, so riesig ist es. Die Filmförderung hat stark auf den Stoff reagiert und ihn mehrfach abgelehnt, ich glaube, wenn es Vater-Tochter gewesen wäre, wäre es leichter gewesen. Einer Mutter ist das schwerer zu verzeihen, was Nadja tut.“

„Grand Jeté“ kam schließlich unter schwierigen Bedingungen doch zustande, der WDR erwies sich als mutig, später stieg das BKM mit einer Fördersumme ein, die dann doch erlaubte, ausführlich (wenn auch unter Workshop-Bedingungen) zu drehen: „Ich habe viele Drehtage gehabt. Wesentlich mehr als bei meinen vorherigen Filmen. Zeit am Set zu experimentieren, noch einen Gedanken zu finden, ist das Wertvollste.“ Das Ergebnis ist ein reifer, ästhetisch wie erzählerisch mutiger, exzellent gespielter und fotografierter Film, mit dem das deutsche Kino das Niveau des internationalen Körperkinos erreicht.

Wenn eine Julia Ducournau für ihren „Titane“ gefeiert wird, dann müsste „Grand Jeté“ konsequenterweise ähnliche Begeisterung auslösen. Für die Regisseurin geht es um ein „Zusammenkommen in einem poetischen Raum“. Es ist ein Raum, der dem deutschen Kino neue Dimensionen öffnet.

D 2022; 104 Min.; R: Isabelle Stever; D: Sarah Grether, Emil von Schönfels, Susanne Bredehöft; Kinostart: 11.8.

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