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Interview

„Große Freiheit“-Regisseur Sebastian Meise: „Wer ist eigentlich pervers?“

1945, 1957, 1969: In drei verschachtelten Episoden erzählt Sebastian Meise in seinem Film „Große Freiheit“ von Hans Hoffmann und Viktor Bix, zwei Männern, die einander immer wieder im Gefängnis begegnen. Hans (Fran Rogowski) ist schwul und sitzt wegen „Unzucht“. „Große Freiheit“ erzählt bewegend von Ausgrenzung und Intimität in einer repressiven, homophoben Gesellschaft. Mit Bert Rebhandl vom tipBerlin sprach Regisseur Sebastian Meise über die Freiräume, die man in einem Gefängnis finden kann, und über die Herausforderung, Formen der Unterdrückung in einem historischen Spielfilm erlebbar zu machen.

„Große Freiheit“ von Sebastian Meise. Bild: Freibeuter Film

„Große Freiheit“: 1969 galt Paragraf 175 noch

„Ich bin nicht so einer.“ Mit diesen Worten geht Viktor Bix auf Distanz zu Hans Hoffmann. Beide sind im Gefängnis, zwei Männer teilen eine Zelle, sie sind zur Intimität gleichsam verurteilt. Aber für Viktor ist es sehr wichtig, dass er nicht für einen Schwulen gehalten wird. Oder für einen „Perversen“. Er will nicht einmal das Wort homosexuell in den Mund nehmen. Deswegen behilft er sich mit dem Ausdruck „so einer“.

Hans Hoffmann ist „so einer“. Es ist das Jahr 1969, im Fernsehen sieht man Neil Armstrong auf dem Mond spazieren, und Hans Hoffmann ist wegen seiner sexuellen Identität eingesperrt. In den Augen des Gesetzes hat er „Unzucht“ getrieben, und er wurde dabei auch gefilmt, mit versteckter Kamera in einer Klappe, einer öffentlichen Toilette. Die Welt draußen wurde mit jedem Tag moderner, aber in der Bundesrepublik Deutschland galt 1969 immer noch der Paragraf 175, demzufolge Homosexualität verboten war.

Sebastian Meise erzählt vom Widerspruch

Von diesem Widerspruch erzählt Sebastian Meise in seinem Film „Große Freiheit“. Im Gespräch mit dem tipBerlin erzählt der österreichische Regisseur, wie sich dieses Projekt für ihn ergeben hat: „Mein Koautor Thomas Reider ist auf einen Bericht gestoßen, in dem schwule Männer berichteten, dass sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von den Alliierten vom KZ direkt ins Gefängnis gebracht wurden, um ihre Reststrafe abzusitzen. Ich fand das unglaublich und konnte das gar nicht einordnen.

Daraufhin haben wir begonnen, zu dem ganzen Paragrafen 175 zu recherchieren. Ich wusste dazu im Detail gar nicht so viel, es war mir natürlich nicht unbekannt, dass Homosexualität früher illegal war. Aber das ganze Ausmaß der Verfolgung war mir nicht klar. Wir haben dann Gespräche mit Zeitzeugen geführt, und es verdichtete sich das Gefühl: da müssen wir dran bleiben.“

Franz Rogowski ist großartig in „Große Freiheit“ von Sebastian Meise. Bild: Piffl Medien

„Große Freiheit“: Aufs Gefängnis konzentriert

Das Dranbleiben bedeutete in diesem Fall, das Thema des Paragrafen 175 über einen längeren Zeitraum erzählerisch zu verfolgen. „Große Freiheit“ schafft das mit einer besonderen Konzentration auf den widersprüchlichen Ort des Gefängnisses. In der Haft wird Hans und Viktor die Freiheit entzogen, sie finden aber auch einen Raum für einen Umgang miteinander, der viele Facetten zwischen Liebe und Freundschaft, Widerstand und Unsicherheit auslotet.

„Den Film ausschließlich im Gefängnis anzusiedeln, verstärkt die Universalität, die die Geschichte dadurch bekommt“, sagt Sebastian Meise. „Weil das ja überall das gleiche System ist: Gitter und Mauern und Zellen. Das ist überall auf der Welt immer dasselbe, auch die Formen der Unterdrückung. Gleichzeitig bekam unser Projekt dadurch eine große Verantwortung, denn unser Film spielt über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren von 1945 bis zur großen Strafrechtsreform.“

„Franz Rogowski und Georg Friedrich sind ein superstarkes Duo“

„Große Freiheit“ überzeugt auch durch das Aufeinandertreffen zweier toller Schauspieler. Franz Rogowski ist Hans Hoffmann, der Österreicher Georg Friedrich spielt Viktor Bix. „Der Wunsch, mit den beiden zu arbeiten“ erzählt Sebastian Meise, „ist schon während des Schreibens entstanden, weil sie einfach meine Lieblingsschauspieler sind. Ich war immer sicher, sie würden perfekt in diese Rollen passen, und so haben wir ihnen das Buch auf den Leib geschrieben, ohne zu wissen, ob sie es überhaupt machen würden. Die beiden in Kombination sind einfach ein superstarkes Duo.“

„Das Medium Film ist zutiefst voyeuristisch“

Einzig gelegentliche Filmaufnahmen brechen den geschlossenen Raum des Gefängnisses auf. Hans erinnert sich an einen Tag am See mit einem Geliebten, verewigt sind diese Momente auf Super 8, dem Material des privaten Kinos. Dem stehen die Bilder aus der Klappe gegenüber, sie zeigen den Kontrollblick des Staates. Sebastian Meise formuliert seine Gedanken dazu so:

„Alles, was von draußen kommt, ist Found Footage, gefundenes Material. Das war ein bisschen das Konzept. Überwachungsfilme gab es wirklich, es wurde auch in Deutschland in den Klappen gefilmt, Kameras waren sehr aufwendig hinter Spiegeln versteckt. Einige erhaltene Filme haben wir in Amerika gefunden. Das Medium Film ist allerdings insgesamt zutiefst voyeuristisch. Das führt zu den Frage: Wer ist eigentlich pervers? Die Leute, die dort kurze flüchtige Begegnungen suchen, oder die Leute, die das heimlich filmen? Wir können ja auch nicht anders, als hinschauen. Die Bilder von dem Tag am See haben einen anderen Akzent. Heute leben wir in einer Zeit, in der Privatheit wenig zählt und alles in die Öffentlichkeit gelangt. Da stehen diese Bilder für einen Freiraum.“

„Große Freiheit“: Sebastian Meises Film ist Oscar-Kandidat

In den 2010er-Jahren trat Sebastian Meise mit zwei Filmen hervor, die sich auf sehr unterschiedliche Weise mit dem Thema Pädophilie befassten: „Stillleben“ und „Outing“ probierten vieles aus, was Spielfilm und Dokumentarfilm im Umgang mit einem kontroversen Thema leisten können. „Große Freiheit“ hatte dann eine längeren Entwicklungszeit, inzwischen lief der Film in Cannes und geht für Österreich beim Oscar an den Start. Es ist also alles gut aufgegangen. „Es war von Anfang an für unsere Verhältnisse ein riesiges Projekt, und es gab sicher auch Momente des Zweifels: Können wir das überhaupt stemmen? Ich habe auch stark die Verantwortung dem Thema gegenüber gespürt. Der Beitrag muss stimmig sein. Insgesamt dauerte das alles sechs Jahre, ich war mir dabei aber immer sicher: man kriegt einen Film irgendwie gemacht. Die Finanzierung hat dann aber sogar relativ schnell funktioniert.“

„Große Freiheit“ von Sebastian Meise. Bild: Piffl Medien

1969 kam es in Deutschland zu der Gesetzesänderung, die dem Paragrafen 175 seinen Schrecken nahm. War das dann die „Große Freiheit“? Sebastian Meise markiert den Moment in seinem Film mit Free Jazz. „Wir wollten einen Ausdruck finden dafür, wie die Leute das damals erlebten. Die Reform kam für die meisten aus heiteren Himmel, die Leute waren völlig von den Socken, denn alle Bestrebungen in den Jahren davor waren immer wieder abgeschmettert worden. Die meisten haben eigentlich nicht mehr daran geglaubt, dass es einmal anders werden könnte.“

Ö 2021; 117 Min.; R: Sebastian Meise; D: Franz Rogowski, Georg Friedrich, Thomas Prenn; Kinostart: 18.11.


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