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„Herr Bachmann und seine Klasse“: Maria Speth spricht über ihre preisgekrönte Doku

Fast fünf Jahre lang hat Maria Speth an ihrem Dokumentarfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“ gearbeitet. Es hat sich gelohnt: das Porträt eines unkonventionellen Lehrers und dessen Schüler:innen aus der 6. Klasse ist ein Höhepunkt des deutschen Kinos. Auf der Berlinale gab es dafür einen Silbernen Bären und einen Publikumspreis. Zum Kinostart von „Herr Bachmann und seine Klasse“ hat sich Bert Rebhandl vom tipBerlin in Neukölln mit der Regisseurin getroffen.

Maria Speth ist für "Herr Bachmann und seine Klasse" auf der Berlinale 2021 ausgezeichnet worden.Foto: Imago/Future Image
Maria Speth ist für „Herr Bachmann und seine Klasse“ auf der Berlinale 2021 ausgezeichnet worden.Foto: Imago/Future Image

„Herr Bachmann und seine Klasse“ begeisterte auf der Berlinale

Eine Schule mitten in Deutschland, und ein Lehrer, der dort etwas ganz Eigenes macht: Das sind im wesentlichen die Voraussetzungen für den Dokumentarfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“. Maria Speth hat in Stadtallendorf in Hessen zwei sechste Klassen durch den Alltag begleitet. Dreieinhalb Stunden lang sieht man dabei auch den Alltag eines stark migrantisch geprägten Deutschland. Es mag ein Zufall sein, ist wohl aber doch eher repräsentativ, dass sich in der Klasse von Dieter Bachmann das gesamte Spektrum von Zuwanderungen abbildet: die innereuropäischen Bewegungen aufgrund der Personenfreizügigkeit in der EU, dazu Emigration aus Russland oder aus Nordafrika, und die zweite und auch schon dritte Generation aus der Türkei.

Im März hatte „Herr Bachmann und seine Klasse“ bei der Corona-Berlinale Weltpremiere und wurde dort mit einem Silbernen Bären und mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Vor dem Filmstart ist dann schon ein Treffen im richtigen Leben möglich.

Herr Bachmann hat sich einen ganz eigenen Raum geschaffen

Das Gespräch von Maria Speth mit dem tipBerlin findet in einem der schönsten Kinos in Neukölln statt: im Wolf Kino. Die erste Frage gilt naheliegenderweise dem Mann, der mit seiner speziellen Pädagogik so etwas wie der Star des Films ist. Wie ist sie auf ihn gestoßen? Der Kameramann Reinhold Vorschneider, mit dem sie seit ihrem Spielfilm „In den Tag hinein“ (2001) zusammenarbeitet, kennt Dieter Bachmann schon lange, und so entstand die Idee zu einem Film.

"Herr Bachmann und seine Klasse": Der Dokumentarfilm zeigt den Alltag an einer hessischen Schule. Bild: Grandfilm
„Herr Bachmann und seine Klasse“: Der Dokumentarfilm zeigt den Alltag an einer hessischen Schule. Foto: Grandfilm

„Dieter Bachmann ist ein Unikum an der Schule“, erzählt Maria Speth. „Für ihn war es bestimmt nicht immer einfach. Die Georg-Büchner Schule ist eine ganz normale Gesamtschule bis zur 10. Klasse, da gibt es Noten, Lehrpläne, alles, was im deutschen Schulsystem so üblich ist. Er hat sich einen Raum geschaffen, auch ganz buchstäblich, einen Raum in einem Gebäudeteil, der eigentlich abgerissen werden sollte. Das Klassenzimmer ist sein Wohnzimmer, bei ihm zu Hause sieht es genauso aus. Und damit schafft er für die Kinder einen Ort, an dem sie sich so zeigen können, wie sie sind. Es kann alles diskutiert werden, nichts wird tabuisiert, so gibt es einen lebendigen Austausch. Für diese Kinder ist Herr Bachmann ein großes Geschenk.“

20 Stunden Rohmaterial

Und die Kinder und Herr Bachmann sind wiederum für den Film ein großes Geschenk. Die Klasse versucht, viel mit Musik zu lösen. Und es wird diskutiert. Der Film nimmt sich die Zeit, die Kinder allmählich kennenzulernen und vorzustellen. Gleichzeitig entsteht ein Porträt von Stadtallendorf, wo es während der Nazi-Jahre viele Zwangsarbeiter gab, und wo sich auch der Wandel der deutschen Industrigesellschaft gut ablesen lässt. Gedreht wurde im Jahr 2017, es gab eine riesige Menge Material.

Maria Speth schildert die besondere Herausforderung: „20 Stunden Rohschnitt hatte ich bisher bei meinen Filmen auch noch nie. Das war aber der Situation geschuldet, dass wir Unterrichtsstunden beobachtend gedreht haben. Ich war anfangs unsicher, ob ich mich darauf einlassen kann. Überhaupt nicht eingreifen zu können, wie es sonst bei Interviews der Fall ist, wo man gezielt Fragen stellt, das war absolutes Neuland. Die Kinder haben mir schnell gezeigt, dass es genau das ist, was es braucht. Und ich wurde beschenkt mit sehr schönen Szenen und einem enormen Vertrauen.“

Große Durchlässigkeit: „Herr Bachmann und seine Klasse“

2010 hat Maria Speth einen Film mit dem Titel „Neun Leben“ gemacht, dafür holte sie obdachlose Jugendliche von der Straße in ein Studio, und führte in einer stark gestalteten Umgebung sehr intime Gespräche. Als Spielfilmregisseurin hat Speth sich den Ruf einer strengen Ästhetin erarbeitet, nun aber zeigt sie, dass sie auch ganz anders kann. Wie war denn im Vergleich der eigene Schulalltag bei ihr?

„Ich bin in Bayern geboren und auf eine Dorfschule gegangen, ähnlich wie in dem Film ,Sein und Haben‘, anschließend auf ein katholisches Mädcheninternat in Ingolstadt, das war vielleicht ein bisschen wie im 19. Jahrhundert aus heutiger Sicht. Damals war das einzig Multikulturelle in meiner Klasse ein äthiopisches Mädchen, sie war mit ihren Schwestern aus politischen Gründen nach Deutschland gekommen und wurde eine meiner besten Freundinnen.“

An einer Stelle erzählt Dieter Bachmann schließlich, dass seine eigenen Großeltern auch Gastarbeiter waren, dass er also selbst aus einer migrantischen Familie kommt, und dass der deutsche Familienname aus den Nazi-Jahren stammt. Er schafft in seinem Unterricht einen Raum, in dem „eine große Durchlässigkeit herrscht“, wie Maria Speth sagt, die genau das mit ihrem Film auch erreichen möchte. Kürzlich gab es nun endlich die Vorführung des Films für die Schüler:innen, die inzwischen vier Jahre älter sind. „Da hat mich am meisten gefreut, dass diese Ausstrahlung der Schüler:innen immer noch da ist, diese direkte, offene, herzliche Art, die einen überwältigen kann, da ist noch ganz viel davon vorhanden.“

Es ist diese Ausstrahlung, von der auch der Film lebt. Für Maria Speth hat sich ein großes Wagnis gelohnt. Sie räumt offen ein, dass es während der lange Arbeit am Schneidetisch auch Phasen gab, in denen sie nicht sicher war, auf einem guten Weg zu sein. „Wir hatten für den Film ein sehr geringes Budget, und deswegen habe ich vieles in Personalunion machen müssen. Ich hoffe, dass es in Zukunft ein bisschen einfacher wird. Ich bin aber auch dankbar, dass es gut ausgegangen ist.“ Das nächste Projekt soll nun wieder ein Spielfilm sein. Er wird sicher auch die Bereicherung, die sie bei den Schüler:innen in Stadtallendorf erfahren hat, spüren lassen.


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