„Hot Milk“ ist die erste Regiearbeit von Rebecca Lenkiewicz, die bisher vor allem als Drehbuchautorin in Erscheinung trat. tipBerlin-Kritikerin Paula Schöber hat den Berlinale-Wettbewerbsfilm gesehen und ist beeindruckt von der Schauspieltrias aus Emma Mackey, Vicky Krieps und Fiona Shaw.
Der Titel von Rebecca Lenkiewiczs Regiedebüt “Hot Milk” verleitet zu Spekulationen, kommt doch gar keine Milch in dem Film vor, erst recht keine heiße. Heiß ist dafür vieles in „Hot Milk“: Zuerst einmal wären da die hohen Temperaturen, die im andalusischen Almería herrschen. Dort hat sich das Londoner Tochter-Mutter-Paar bestehend aus der Mittsechzigerin Rose (Fiona Shaw) und ihrer 26-jährigen Tochter Sofia (Emma Mackey) im Sommer einquartiert.
„Hot Milk“: Aufgeheizte Stimmung an der spanischen Mittelmeerküste
Die Beziehung zwischen ihnen ist eng, aber nicht unbedingt im positiven Sinne. Rose sitzt im Rollstuhl, seit ihre Tochter vier Jahre alt war; damals hat auch Sofias Vater die Familie verlassen. Sie leidet unter einer ominösen Krankheit, die ihr chronische Schmerzen und gelähmte Beine verursacht. In Almería hoffen beide, dass ein Spezialarzt Rose irgendwie helfen kann. Sofia pflegt seit jeher ihre kranke und gleichzeitig herrschsüchtige, zutiefst narzisstische Mutter. Ihr Privatleben leidet darunter ebenso wie ihre Karriere (aufgrund der Rund-um-die-Uhr-Betreuung ihrer Mutter kommt sie mit ihrem Anthropologie-Studium nicht voran, die Mutter wirft ihr Faulheit und Feigheit dafür vor). Heiß ist also auch die aufgeheizte Stimmung zwischen Tochter und Mutter.
Keine Abkühlung, sondern noch mehr Hitze bringt die deutsche Touristin Ingrid (Vicky Krieps) an die spanische Mittelmeerküste und in Sofias Leben. Wie der „knight in shining armor“ reitet die freigeistige, polyamouröse Frau mit der luftigen, weißen Bluse auf einem Pferd am Strand in das Leben der frustrierten Sofia hinein. Die ist sofort fasziniert von dieser Ingrid aus Berlin, verliebt sich in sie, sucht Zuflucht bei ihr, wenn sie es bei ihrer Mutter gerade mal wieder nicht aushält. Etwa, weil diese sich permanent über das angeblich schlecht schmeckende Wasser beschwert.
Aber schnell muss Sofia, deren schwitzige Haut die ganze Zeit in der Sonne glänzt, so heiß ist es, einsehen, dass auch die mysteriöse Ingrid ihr Päckchen zu tragen hat. Und dieses, genau wie Sofias Mutter, bei ihr abzuladen versucht. Sie erzählt ständig von sich und ihren eigenen Problemen, anstatt dass sie sich für Sofia, deren Gefühle und Träume interessiert. So hat diese bald zwei dominante Frauen in ihrem Leben, um die sie sich kümmern muss.
„Hot Milk“ ist ein Film der Frauen
„Hot Milk“ ist ein Film der Frauen; Männer spielen hier nur am Rande ein Rolle. Regisseurin Rebecca Lenkiewicz konzentriert sich in ihrem Regiedebüt ganz auf die verschiedenen Rollen, die Frauen meistens einnehmen: Die drei Protagonistinnen sind alle irgendwie Töchter, Mütter, Schwestern, Geliebte. Alle haben sie ihre eigenen Probleme und sind durch ihre Schmerzen darüber miteinander verbunden.
„Hot Milk“ ist auch ein Film über Schmerz: über die chronischen Schmerzen, die Rose plagen und in die Verzweiflung treiben, den Schmerz, den Ingrid seit einem schrecklichen Unfall in ihrer Kindheit mit sich herumträgt, und den emotionalen Schmerz, den Rose in ihrem horrenden Narzissmus ihrer Tochter bereitet, die die Schikane ihrer Mutter, aber auch deren Pflege, die sie notgedrungen übernimmt, geduldig hinnimmt. So ist „Hot Milk“ auch die Geschichte einer Tochter, die sich aus den emotionalen Abhängigkeitsklauen ihrer giftigen, egozentrischen und noch dazu pflegebedürftigen Mutter zu befreien versucht.
Drehbuch und Romanvorlage stammen von Deborah Levy
Obwohl im Film keine heiße Milch auftaucht, ist der Titel nicht aus der Luft gegriffen: Das Drehbuch basiert auf dem gleichnamigen Roman der Britin Deborah Levy, die dafür 2016 für den wichtigsten britischen Buchpreis, den Man Booker Prize, nominiert war. Levy selbst hat ihr eigenes Buch für die Leinwand adaptiert. Für Rebecca Lenkiewicz ist es das erste Mal, dass nicht das Drehbuch von ihr stammt, sondern die Regie. Die 57-jährige Britin trat bisher vor allem als Drehbuchautorin und Dramatikerin in Erscheinung. Von ihr stammen unter anderem die Skripte für Maria Schraders „MeToo“-Drama „She Said”, den biografischen Film über die französische Denkerin Colette und das Drama “Ungehorsam” über eine junge Frau und ihre Beziehung zu ihrer jüdisch-orthodoxen Herkunft.
Grandiose Schauspiel-Trias aus Emma Mackey, Vicky Krieps und Fiona Shaw
Mit “Hot Milk” gelingt Lenkiewicz nun ein sehr gutes, wenn auch nicht herausragendes Regiedebüt. Dass sie die (echten) Realitäten und Probleme von Frauen (und zwar keine heteronormativen Beziehungsproblem-Klischees mit Happy End) scharf beobachten und gekonnt auf die Leinwand bringen kann, hat sie schon in ihren früheren Drehbüchern bewiesen. Mit „Hot Milk“ zeigt sie nun, dass sie das Genre durchaus auch als Regisseurin beherrscht.
Dass der Film so gut funktioniert, liegt aber nicht zuletzt an der grandiosen Schauspiel-Trias aus Emma Mackey (vor allem bekannt geworden mit der britischen Coming-of-Age-Serie “Sex Education”), Vicky Krieps (die gerade erst 2023 mit Margarethe von Trottas Ingeborg-Bachmann-Film „Reise in die Wüste“ auf der Berlinale war) und der großartigen Fiona Shaw. Die Irin steht meistens auf der Theaterbühne, dürfte „Harry Potter“-Fans aber mit ihrer Verkörperung der gemeinen Tante Petunia des jungen Zauberers ein Begriff sein.
Vicky Krieps ist zwar ein alter Berlinale-Hase, aber sowohl für Fiona Shaw als auch für Emma Mackey ist es die erste Berlinale, wie die beiden auf der Pressekonferenz vor der Premiere verraten. Sie freuten sich aber „wie ein Kind“ darüber, in Berlin zu sein. Und das Publikum darf sich gleichfalls über ihre Performances in diesem gelungenen, intensiven Film freuen.
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