Interview

„Blutsauger“-Regisseur Julian Radlmaier: Von den Simpsons zu Marx

Julian Radlmaier erzählt in der Vampirkomödie „Blutsauger“ von einem Mann, den es 1928 aus der Sowjetunion an die norddeutsche Küste verschlägt, wo er zum Faktotum einer Fabrikantentochter wird. Der Regisseur zeichnet sich durch einen originellen Umgang mit den Traditionen des politischen Kinos aus. Ein Gespräch über den großen Theorie-Heiligen Karl Marx, Berlin als Stadt linker Traditionen und, natürlich, seinen Film „Blutsauger“.

Obacht vor dem Blutsauger! Foto: Grandfilm

Julian Radlmaier: „Ich bin aus Bayern mit einer antikommunistischen Grundprägung nach Berlin“

tipBerlin Herr Radlmaier, „Blutsauger“ beginnt mit einem Marx-Lesekreis am Ostseestrand. Haben Sie selbst Erfahrungen mit so etwas, vielleicht sogar einmal einen geleitet?

Julian Radlmaier Geleitet nicht, teilgenommen ja, zum Teil mit denselben Leuten, die auch im Film zu sehen sind. Aber wir sind nicht so wahnsinnig weit gekommen. Es gab vielleicht acht Sitzungen, in deren Verlauf immer stärker Haarspaltereien und Streitigkeiten über einzelne Sätze überhand genommen haben. Aber diese Erfahrung ist ein bisschen auch in dem Film verarbeitet.

tipBerlin Es fällt jedenfalls auf, dass das Vokabular des Kommunismus in allen Ihren Filmtiteln präsent ist: „Ein Gespenst geht um in Europa“, „Ein proletarisches Wintermärchen“, „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ und nun „Blutsauger“.

Julian Radlmaier Ich bin aus Bayern mit einer antikommunistischen Grundprägung nach Berlin zum Studieren gegangen, und habe dann hier viele Leute aus der ehemaligen Sowjetunion kennengelernt, auch aus der ehemaligen DDR. Das hat mich bewogen, mich mit der realsozialistischen Geschichte zu befassen, und da kommt man ganz ohne den Bezug zur Marxschen Theorie nicht aus. An der DFFB gab es auch eine Vorgängergeneration, die für uns super interessant war, denn wir sahen uns eher auf den normalen Gang eines Ausbildungsbetriebs verwiesen. Das Pathos dieser Generation war uns aber auch fremd, wenn Harun Farocki sich für seinen Film „Nicht löschbares Feuer“ eine Zigarette auf dem eigenen Arm ausdämpft. Aber ich würde heute schon sagen, im Marxismus steckt ein Erkenntnisweg drin.

So sieht er aus, der „Blutsauger“-Regisseur Julian Radlmaier. Foto: Tim Schenkl / Grandfilm

tipBerlin Hat das Interesse auch einen Generationenaspekt? Die 68er waren sich mit ihrer Marx-Lektüre ja häufig super sicher, heute liest man das wahrscheinlich skeptischer.

Julian Radlmaier Ich habe mich nie aktiv in einer politisch linken Szene bewegt, wie man das mit Blick auf 68 beschreiben könnte. Es gab relativ zufällig in meinem Jahrgang an der DFFB ein paar Leute mit ähnlichen Interessen: Max Linz und vor allem Jan Bachmann, der mittlerweile Comic-Zeichner ist, andererseits auch jemand wie Alexandre Koberidze, der aus Georgien an die DFFB kam, und der eher die realsozialistische Erfahrung verkörpert und mit unserem Marx-Flirt wohl eher skeptisch war. Er hat den Marxismus eben auch als Jargon der Unterdrückung gespeichert. Und das war eine interessante Konstellation. Marx ist nicht die eine Referenz, um dessen Denken sich bei mir alles drehen würde, ich habe mich dann stärker mit Jacques Rancière beschäftigt, den ich auch übersetzt habe.

Julian Radlmaier: „In Berlin waren linke Filmtraditionen sehr lebendig“

tipBerlin Haben Sie Berlin als einen Ort erlebt, der politisch nach links gravitiert?

Julian Radlmaier Da ist etwas dran. An der Freien Universität bin ich noch auf diese Theorietradition gestoßen, bei der Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch mit ihrem Bezug zur Frankfurter Schule. Das Arsenal als Kino, wo wir sehr viel waren, hält linke, auch sowjetische Filmtradition sehr stark lebendig. Oder Marin Martschewski, unser Regiedozent an der DFFB, der für mich sehr wichtig war, ein Bulgare. All das hat die Sozialisation meiner Spätpubertät doch deutlich überschrieben.

tipBerlin „Blutsauger“ ist ein Vampirfilm, und zugleich ein Film über eine Metapher, die bei Marx den Kapitalismus beschreibt. Und noch vieles mehr. Wie kam das alles zusammen?

Julian Radlmaier Das war ein sehr merkwürdiger Prozess. Ein Startpunkt war tatsächlich die Anekdote, dass Sergej Eisenstein den Film „Oktober“ gedreht hat mit vielen Szenen mit Trotzki, während damals Ende der 1920er-Jahre gerade der Machtkampf mit Stalin entschieden wurde, sodass Trotzki aus dem Film geschnitten werden musste. Ich war dann später einmal in Mexiko City auf einem Filmfestival und habe damals gemeinsam mit Sergej Losnitsa und Ali Chamrajew, die auch eingeladen waren, das Haus gesucht, in dem Trotzki mit dem Eispickel erschlagen wurde.

Der Weg zur Vampirkomödie „Blutsauger“

tipBerlin Aber warum gerade „Oktober“?

Julian Radlmaier In dem Buch „Der einfache Mensch des Kinos“ von Jean-Louis Schefer gibt es eine tolle Einstellung aus dem Film „Oktober““, in der drei Arbeiter einem Offizier mit Zigaretten Nebel ins Gesicht blasen, ein sehr einfacher Spezialeffekt sozusagen. So hat mich der Dreh zu „Oktober“ immer stärker zu interessieren begonnen. Über den Darsteller, der Trotzki gespielt hat, habe ich dann irgendwo gelesen (vielleicht bei Schklowski), dass er im wahren Leben eine Art Zahnarzt gewesen sein soll. Eine Art Zahnarzt. Ich fand diesen Satz merkwürdig, er hat meine Fabulierlust angefacht. Schließlich fand ich in dem Roman über Lasik Roitschwantz von Ilya Ehrenburg die Szene mit einem Herrenschneider aus einem ukrainischen Stätel.

Der muss im falschen Moment vor einem Parteiplakat niesen und daraufhin die Sowjetunion verlassen. Anschließend landet er in einem Schelmenroman unter anderem in Berlin beim Dreh eines Films, den ich mir immer wie eine Parodie auf Fritz Lang vorgestellt habe. So entstand die Idee, dass ein sowjetischer Emigrant nach Deutschland kommen und auf einem Filmset landen könnte. Über die Ostsee landet er in Lübeck, da ist man filmgeschichtlich gleich bei „Nosferatu“. Da schloss sich dann ein Kreis über diese vielen Fragmente zum Vampir-Motiv im Kapital.

Die Vampirkomödie „Blutsauger“ von Julian Radlmaier bietet einige Facetten. Foto: Grandfilm

tipBerlin Welche Rolle spielt das Komische für Sie beim Schreiben? Denn der Film ist auf eine hintergründige Weise sehr komisch.

Julian Radlmaier Ich tue mich schwer damit, eine These zu vertreten. Im Komischen blitzt etwas auf, da gelingt vielleicht eine Kombinatorik, wo etwas drin stecken könnte. Mit manchen tschechischen Romanen zum Beispiel von Jaroslav Hašek oder Bohumil Hrabal habe ich zu meiner Art zu schreiben gefunden. Ich habe einmal von Nürnberg einen Umweg über Prag nach Berlin genommen mit einem Roman von Hrabal im Gepäck, da sind damals erste Plot- und Dialog-Ideen für „Ein Gespenst geht um in Europa“ entstanden. Popkulturell waren meine große Sozialisation die Simpsons. Meine Art von fabulatorischer Komik kommt vielleicht auch von da her. Ich bewundere Filmemacher, die das Schreiben ganz auslassen können, und direkt vom Bild her denken. Noch bin ich nicht so weit. Dialoge sind so das erste, das gleich eine fertige Form hat oder bei denen man das Ergebnis relativ klar antizipieren hat. Da hat man schon einmal etwas produziert.

Julian Radlmaier: „Es gibt eine fundamentale Ungerechtigkeit, die kein System geschafft hat, aufzuheben“

tipBerlin Nach der Wende wollte man uns lange einreden, dass Ironie die einzige Haltung gegenüber der Geschichte sei, die sich vertreten ließe. Diese Überlegenheit sieht schon länger jämmerlich aus. In „Blutsauger“ steckt auch eine Menge Ernsthafigkeit, finde ich. Nicht zuletzt durch den Hauptdarsteller Alexandre Koberidze, dessen Präsenz faszinierend ist.

Julian Radlmaier Es gibt so ein paar Grundelemente, auch ein gewisses Pathos, eine gewisse Trauer. Ein Humor, der mich berührt, ist existenzieller, eher wie bei Beckett. Dass Sandro (so nennen wir Alexandre Koberidze) das auch als Passionsgeschichte spielt, diese Blutentleerung, das ist extrem wichtig. Es gibt eine fundamentale Ungerechtigkeit, die kein Gesellschafssystem jemals geschafft hat, aufzuheben, eine Erfahrung von Armut und Demütigung, die in der Geschichte uralt ist. Im Sozialismus wurde das Versprechen, diese Erniedrigung zu überwinden, noch einmal besonders schmerzhaft gebrochen.

tipBerlin Die 1920er-Jahre waren eine Blütezeit des Kinos in Amerika, in der Sowjetunion, auch in Deutschland. Zitieren Sie das, oder spielen Sie damit?

Julian Radlmaier Es gab auch noch den 1920er-Jahre Avantgardefilm, Jean Epstein oder Luis Buñuel, auch das gibt es auch noch in unserem Film. Wir wollten kein Mimikry dieser Formen machen, sie aber doch aufrufen. Sie werden ja nicht mehr benutzt, und doch steckt immer noch etwas sehr Interessantes drin. Vielleicht kann man ja doch bestimmte Prinzipien nehmen, sie noch einmal denken.

tipBerlin Sie machen sich in „Blutsauger“ durchaus über die herrschenden Klasse lustig. Lilith Stangenburg ist toll als protestantische Fabrikantentochter. Am Ende sieht dann aber auch das Volk nicht so gut aus. Das hat doch Aspekte eines präfaschistischen Pöbels, oder?

Julian Radlmaier Damit habe ich lange gehadert. Dieser Riss ist auszuhalten. Es gibt diesen Umschlag ins Faschistische, ich will aber trotzdem nicht aus einer bürgerlich-intellektuellen Perspektive bestimmten Gruppen vorwerfen, sie hätten die Revolution verraten. Bei Rancière geht es darum, immer noch etwas offenzuhalten, ich kann aber auch ein Erschrecken vor gewissen gegenwärtigen Tendenzen nicht verhehlen, möchte das aber nicht als fatalistische Wahrheit festlegen. Es gibt auch andere Potentialitäten im Film. Film ist ein paradoxes Medium, es kann auf der erzählerischen Ebene etwas anderes vermitteln als mit seiner sinnlichen Ebene. Diese Ebenen in Konflikt zu bringen, ist vielleicht das, was mich interessiert.


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