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Interview

„Sonne“-Regisseurin Kurdwin Ayub: „Unter dem Filter liegt Verletzlichkeit“

Manchmal taucht ein Film auf, der mitten aus der Gegenwart zu kommen scheint. „Sonne“ der Filmemacherin Kurdwin Ayub ist so einer. Drei junge Frauen in Wien leben zwischen Alltag und sozialen Medien, traditionellen Familien und Selfmade-Identitäten. Im Gespräch mit tipBerlin-Filmkritiker Bert Rebhandl erzählt Kurdwin Ayub freimütig von dem Stress, den sie seit dem Erfolg von „Sonne“ hat, von ihren Ängsten und von der Zusammenarbeit mit der Produktionsfirma von Ulrich Seidl.

„Sonne“ von Kurdwin Ayub. Foto: Neue Visionen

Eine Band zerstreitet sich durch Fame: „Sonne“ von Kurdwin Ayub

tipBerlin Frau Ayub, Ihr Film „Sonne“ wirkt sehr spontan. Gab es eine Szene, mit der alles begann?

Kurdwin Ayub Wichtig war die Szene, in der die Mädels sich verkleiden und die Kopftücher der Mutter und der Freundin ausborgen, eine Szene, in der sie sich quasi zum Affen machen. Und dann auch die Szene, wo sie sich drüber streiten, was sie getan haben – ein Video zu dem Song „Losing my Religion“ mit Hidschab. In den 1990er-Jahren gab es die Band Tic Tac Toe, die haben sich einmal auf einer Pressekonferenz ganz öffentlich zerfetzt. Das fand ich immer uiiii! Die Band zerstreitet sich durch den Fame. Das habe ich dann verbunden mit tieferen Themen.

tipBerlin Das Video geht viral. Was bedeuten Ihnen die sozialen Medien?

Kurdwin Ayub Mich interessiert Social Media sehr. Ich bin die Generation, für die das alles neu gekommen ist. Ich fand Repräsentationsformen immer schon interessant, auch im Kleinsten, zum Beispiel eine Freundin, die ihr Verhalten verändert, wenn ihr Freund dabei. Ich fand das immer so schräg. In meiner Jugend habe ich viel darüber nachgedacht, wie ich rüberkomme, weil ich hatte so voll kein Selbstbewusstsein. Ich wollte immer besser sein, als ich bin – origineller, spezieller, lustiger. Social Media ist der Höhepunkt von allem. Man kann sich da selber kreieren, eine Plattform, wo man jemand anderer sein kann, wenn man aus einem anderen sozialen Status kommt. Es gibt aber natürlich auch die negativen Effekte, den ganzen Druck und die Like-Falle. „Sonne“ ist da eine Bündelung von allen meinen Interessen. Ich bin selber nicht so drauf auf Social Media, weiß aber, wie man das nutzt. Alles, was neu kommt, interessiert mich, auch jede neue App.

tipBerlin Sie verbinden den Look der Apps mit dem Kino: Manche Bilder sind hochformatig.

Kurdwin Ayub Ich habe das schon öfter gemacht, auch in meinen Kurzfilmen, zum Beispiel in „Lol Lol Lol“, habe ich hochformatige Bilder und die sogar gekippt. Ich finde das witzig, wenn man solche Sachen machen kann. Diese Fehler sehen wir ständig am iPhone, aber so was hat man noch nie im Kino gesehen, obwohl es so alltäglich ist. In Handyvideos ist die Realität so interessant, die Unverschöntheit! Unter dem Filter sieht man die Verletzlichkeit des Menschen.

„Sonne“ von Kurdwin Ayub. Foto: Neue Visionen

tipBerlin Auf den sozialen Medien hört das Kino nie auf. Kameras sind immer dabei. War das für Sie ein Ausgangspunkt?

Kurdwin Ayub Ich hab immer Kameras dabei gehabt, seit ich jung bin, und immer alles gefilmt. Also nicht mit dem Handy, richtige Cams. Alles wirkt bei mir wie aus dem Alltag gegriffen, weil ich viel mit den Darstellerinnen zusammenarbeite. Ich hänge viel mit ihnen ab, wir interessieren uns füreinander. Ich sage ihnen, was sie in der Szene machen sollen, frage sie aber auch, sonst würden sie sich ja voll verbiegen. Ich caste meine Leute so, dass sie sich nicht verbiegen müssen, und trotzdem ist es eine andere Person auf der Leinwand.

Kein Kopftuch-Klischee-Mädchen: Yesmin in „Sonne“

tipBerlin Im Mittelpunkt steht Yesmin, die anfangs wie eine traditionelle Muslima wirkt. Ihre Darstellerin auch?

Kurdwin Ayub Das ist eigentlich eine christliche Armenierin aus der Türkei, in Österreich geboren. Sie ist gar nicht wie Yesmin, aber sie hat dieses Temperament, diese Stärke. Sie kann sich verteidigen, ich glaube, deswegen wollte ich sie. Kein Mädel, die das Opfer ist, sondern eine, die eine Heldin sein kann. Kein Kopftuch-Klischee-Mädchen. Ihre Introvertiertheit ist inszeniert, da passt ihr Gesicht, an ihren Augen sieht man ihre verletzliche Natur.

tipBerlin Haben Sie lange gecastet?

Kurdwin Ayub Die drei Mädels habe ich tatsächlich in einem umfangreichen Castingprozess gefunden. Von einem anderen Jugendfilm hat mir eine Casterin einen Blick in die Kartei erlaubt. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt  noch kein Produktionsbudget und musste alles selbst machen. Ich bin bei fast jedem Castingschritt dabei, als Regie muss man die Leute kennenlernen. Man muss sich vertrauen können, damit etwas Spezielles rauskommt.

tipBerlin „Sonne“ begann also in kleinen Schritten. Man kannte Sie damals ja noch kaum.

Kurdwin Ayub In meinem Kopf war es immer schon ein ernsthaftes Projekt. Es gibt in Europa viele Programme und Förderungen für Projektentwicklung, also zum Beispiel Scriptlabs, wo man Szenen weiterentwickelt. Bei einem Programm konnte ich mir dann schon eine Dramaturgin leisten. Da habe ich Veronika Franz (Regisseurin des Horrorfilms „Ich seh ich seh“) gewählt, sie ist ein Idol für mich. Sie ist Teilhaberin bei der Produktionsfirma von Ulrich Seidl, und hat mich dorthin vermittelt. Ich wusste, dass die Firma mir sehr viele Freiheiten geben wird.

tipBerlin Wie schon in Ihrem Dokumentarfilm „Paradies Paradies“ spielen Ihre Eltern auch in „Sonne“ mit.

Kurdwin Ayub Die Mutter spielt nicht sich selber, nur die Szene, wo sie über den Krieg redet, ist echt, der Rest ist ein Zusammenbasteln von Charakteren aus unserem Verwandtenkreis. Der Vater ist mehr er selbst. Das Ding ist halt, ich habe sehr lange versucht, nicht meine Eltern zu nehmen, aber es ist sehr schwierig, Personen in diesem Alter zu finden, die den selben kurdischen Dialekt sprechen. Und die, die ich finde, trauen sich dann nicht. Meine Eltern lassen alles zu. Sie wissen, dass es nicht ihr privaten Probleme sind, was man sieht, sie vertrauen dem Medium Film und mir. Das gibt es in dieser Community sehr selten. Die Leute sind eher still und müde vom Arbeiten.

Die Wiener Regisseurin Kurdwin Ayub. Foto: Neue Visionen

tipBerlin Wie wichtig ist Ihnen Ihre Identität als Kurdin?

Kurdwin Ayub Als Teenager war es mir gar nicht wichtig. Mit 18, 19 habe ich angefangen, mich zu fragen, wo ich eigentlich herkomme. Irak ist interessant und Kurdistan ist interessant. Man muss erst einmal draufkommen, wer man ist, bevor man draufkommt, dass es ist wurscht ist, wer man ist. Ich caste gerade in Jordanien. Die Mädels dort sind Araberinnen. Wenn ich mit denen rede, fühlt es sich so an, als hätten sie dieselben Probleme wie ich. Ich würde sagen: ich bin Österreicherin mit kurdischen Eltern, aber ich bin auch keine typische Österreicherin. Ich bin Kurdwin.

tipBerlin Und die Religion?

Kurdwin Ayub Religion ist für mich ein Thema, über das ich sehr viel nachdenke. Ich lebe in einem katholischen Land, meine Eltern sind muslimisch. Wenn österreichische Familien so richtig österreichisch sind, dann sind die Kinder auch von Religion geprägt, wenn sie nicht gläubig sind. Bei uns ist das ähnlich. Wenn jemand eine Muslima beleidigt, fühle ich mich auch beleidigt. Ob Yesmin wirklich glaubt, ist nicht das Thema, sie ist eben in so einer Familie. Bei mir ist die ganze Verwandtschaft streng gläubig, die Eltern waren immer die Außenseiter. Es ist interessant, an etwas zu glauben, während zugleich alles so wissenschaftlich ist. Es wäre cool, an etwas glauben zu können, dann hätte ich nicht so Angst …

Kurdwin Ayub: „Ich war immer am Rande der Normalität“

tipBerlin Angst wovor?

Kurdwin Ayub Unser Leben ist so begrenzt. Irgendwann ist es zu Ende, dann ist halt nichts mehr. Bei mir ist es so, dass ich psychisch immer am Rand der Normalität bin.

tipBerlin Der Song „Losing my Religion“ von R.E.M. ist sehr wichtig für Ihren Film.

Kurdwin Ayub Ja, wobei das Wort Religion da ja was anderes bedeutet. So was wie: „Ich verliere die Fassung“. Mir gefiel das, damit zu spielen. Im Normalfall sind die Rechte für so einen Song ziemlich teuer, da zählen sie die Sekunden. Aber ich habe R.E.M. einen Brief geschrieben, und dann haben sie eine Pauschale akzeptiert.

tipBerlin Sie erwähnten, dass Sie gerade einen Film vorbereiten, der in Jordanien spielen soll.

Kurdwin Ayub Es geht um eine ehemalige MMA-Kampfsportlerin, die von einer reichen arabischen Familie als Personal Trainerin engagiert wird. Sie ist Österreicherin Sie will wieder zurück in den Käfig, denn MMA wird ja so gekämpft, und sie trifft auf Leute, die weg wollen aus einem Käfig.

tipBerlin Wie kam es, dass „Sonne“ auf der Berlinale in der Reihe Encounters Premiere hatte?

Kurdwin Ayub Wir hatten das Glück, dass wir zu dem Zeitpunkt schon positive Zusagen von Festivals hatten. Aber ich wollte ein deutschsprachiges Publikum haben, deswegen haben wir uns für die Berlinale entschieden. Erst ganz zum Schluss wurde dann klar, dass es Encounters wird. Wegen Corona war das Festival dann leider teilweise wie in einer Militärkaserne. Man konnte auch nicht das ganze, ganze Team mitnehmen. Trotzdem war die Berlinale das Beste, was „Sonne“ passieren konnte.

tipBerlin Und seither geht es rund in Ihrem Leben?

Kurdwin Ayub Ich war nicht auf so vielen Festivals, sondern habe mich dazu entschlossen, mehr am nächsten Projekt zu arbeiten. Einerseits hat man mir gesagt: du musst schnell deinen nächsten Film machen, sonst vergisst man dich. Andererseits hat man mir gesagt, dass ich auf alle Festivals fahren soll, um den Film zu promoten. Ich war jetzt gerade in Sevilla und in der Schweiz, und bin urfertig. Samstag und Sonntag kann ich die Wohnung putzen und Wäsche waschen, und danach geht es wieder weiter.

tipBerlin Gar nicht so leicht, mit dem Erfolg umzugehen?

Kurdwin Ayub Ich habe das Gefühl, dass ich den Moment nutzen muss. Dieser Druck ist was ganz Interessantes. Bei „Sonne“ war das nicht so schlimm, da konnte ich mir sagen, wenn der scheitert, ist es egal, denn mich kennt niemand. Jetzt habe ich auch den Trick gemacht und meinem zweiten Film den Titel „Mond“ gegeben. Da erwarten alle, dass er noch cooler wird als „Sonne“. Es ist schon arg.

Sonne

Drei junge Wienerinnen mit Migrationshintergrund posten ein Video, in dem sie mit Kopftuch „Losing my Religion“ von R.E.M. singen. Den Erfolg auf den sozialen Medien und auf muslimischen Hochzeiten nimmt Kurdwin Ayub zum Ausgangspunkt für einen klug mit heutiger Handy-Ästhetik und Jugendkultur spielenden Film.

Ö 2022; 88 Minuten; R: Kurdwin Ayub; D: Melina Benli, Law Wallner, Maya Wopienka; Kinostart: 1.12.

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Mehr zu Kurdwin Ayubs „Sonne“ und den weiteren Filmstarts am 1. Dezember 2022 lest ihr hier. Auch spannend: das Menschenfresserdrama „Bones and All“ und die weiteren Filmstarts am 24. November. Kürzlich gingen die Hofer Filmtage zu Ende, wie immer mit spannenden Premieren – für tipBerlin war Martin Schwarz vor Ort. Videotheken waren früher ein wichtiger Anlaufpunkt für Kinomenschen in Berlin – wir erinnern uns an die besten Orte. Auf dem Laufenden bleibt ihr Mit unserer Rubrik zu Kino in Berlin. Was läuft wann? Das aktuelle Kinoprogramm für Berlin ist hier.

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