Mo Harawe kam als Teenager aus Somalia nach Österreich und wurde dort zum Filmemacher. Mit seinem ersten Langfilm „The Village Next to Paradise“ schaffte er es gleich nach Cannes. Er erzählt darin von dem Land seiner Herkunft: Somalia gilt in der westlichen Perspektive als „gescheiterter Staat“. Ein Gespräch über die Gefahren des islamistischen Terrors, die Zukunftschancen für junge Menschen in Somalia und über die Zufälle auf dem Weg zu einer Karriere als Filmemacher.
Regisseur Mo Harawe: „Die Menschen haben ein Bild von Somalia im Kopf – ein Land, in dem nichts funktioniert“
tipBerlin Herr Harawe, Ihr Film „The Village Next to Paradise“ spielt in einem Dorf südlich der Hauptstadt Mogadischu in Somalia. Es heißt Paradies. In welcher Sprache?
Mo Harawe Die Figuren in meinem Film – der Vater Mamargade mit seinem Sohn Cigaal und dessen Tante Araweelo – sprechen Somali. Für das Wort Paradies verwenden sie meistens das arabische Wort Dschenna. Somali ist eine eigene afroasiatische Sprache, die nichts mit Arabisch zu tun hat. Auch in der Schule, in die Cigaal schließlich kommt, wird Somali gesprochen sowie zusätzlich Arabisch unterrichtet.
tipBerlin Sie sind Österreicher und kommen selbst aus Somalia.
Mo Harawe Ich werde oft gefragt, wo ich herkomme. Die Menschen haben ein Bild von Somalia im Kopf – ein Land, in dem nichts funktioniert. Mein Film ist ein Versuch, eine Geschichte zu schreiben, in der ich zeigen kann, was Somalia in meinen Augen ist und was die Probleme sind. Denn es gibt auch viele Probleme, die von außen kommen, nicht nur solche, die die Menschen im Land verursacht haben.
tipBerlin Somalia gilt als „gescheiterter Staat“. Eine islamistische Gruppe terrorisiert das Land. Sie zeigen auch, dass amerikanische Drohnen eine große Gefahr sind. Und es gibt weitere Aspekte: ökologische Probleme, wirtschaftliche Probleme.
Mo Harawe Viele Leute fragen: Wie kann jemand in einem „failed state“ in eine Schule gehen? Wie kann überhaupt ein Leben existieren ohne ein funktionierendes System? Das ist in Somalia seit 1992 in gewisser Weise der Fall – es fehlt an Sicherheit, die normalerweise ein Staat garantiert. Es gibt aber auch ein Clansystem, das über Jahrhunderte funktioniert. Es gibt also schon etwas, aber nicht ein System, wie man es vielleicht von außen erwarten würde.
Mo Harawe: „Ich wollte keine klassische Familiengeschichte erzählen mit Vater, Mutter und Kind, sondern ich wollte Formen von Solidarität in Somalia zeigen“
tipBerlin Ihre drei Hauptfiguren bilden eine Familie, allerdings sind der Mann und die Frau nicht verheiratet, sondern Geschwister. Warum haben Sie das so gewählt?
Mo Harawe Die Frau von Mamargade hatte einen Unfall, seither ist er Witwer. Ich wollte keine klassische Familiengeschichte erzählen mit Vater, Mutter und Kind, sondern ich wollte Formen von Solidarität in Somalia zeigen, mit Menschen, die sehr unterschiedliche Ziele haben. Diese Konstellation habe ich gewählt, damit wir mehr von dem Land sehen. Ich brauchte Menschen, die voneinander unabhängig sind und nicht notwendigerweise zusammen in eine Richtung gehen müssen. Anaweelo möchte nach ihrer Scheidung ein Geschäft aufmachen. So können wir mehr über die Figuren und ihre Welt erfahren.
tipBerlin Wenn Mamargade mit dem Auto in die Stadt fährt, hört er lokale Musik. Auch in anderen Szenen ist somalischer Pop zu hören. Welche Bedeutung hat diese populäre Kultur?
Mo Harawe Somalia ist reich an Musik und Poesie. Es gibt sogar den Ausdruck: die poetische Nation. Überall läuft Musik, in den Tuktuks, im Auto. Musik ist ein Teil vom Alltag. Im Fernsehen gibt es viel aus dem arabischen Bereich zu sehen. Früher hat man auch mit Videokassetten somalische Theaterstücke geschaut. Es gibt auch heute viel somalischen Content, und aus dem ostafrikanischen und arabischen Raum, also aus der näheren Umgebung.
tipBerlin An einer Stelle wird Giftmüll erwähnt, der die Küste verpestet. Was hat es damit auf sich?
Mo Harawe Gemeint sind Giftmüllcontainer, die immer wieder an der somalischen Küste auftauchen. In einem Fall war es klar, dass die italienische Mafia dahintersteckte. Das spricht der Film auch an. Piraterie in Somalia ist ein Thema in den internationalen Medien, aber man sagt nie, dass ausländische Fangflotten die Küste geplündert haben und diesen Fischern die Lebensgrundlage entzogen haben. Oft ist es nicht so, wie man es vereinfacht darstellt. Oft kommen die Probleme von außen.
tipBerlin Mir kam vor, dass die Dialoge bei Ihnen eine ganz eigenen Rhythmus haben. Die Menschen lassen sich Zeit mit den Antworten, es wirkt alles bedächtiger.
Mo Harawe Das hat damit zu tun, dass die Leute in diesem Dorf viel Zeit haben. Alles dauert länger. Die Figuren wissen alles voneinander. Nichts lenkt sie ab. So ist das Dorfleben. Ich denke, so viel anders wird das in einer kleinen Stadt in Deutschland nicht sein. In Berlin ist die Kommunikation vielleicht schneller.
tipBerlin Was kann aus Cigaal werden? Vielleicht folgt er einmal den Fußstapfen des großen Nationaldichters Nuruddin Farah? Er scheint literarisch begabt zu sein.
Mo Harawe Ich glaube: Alles kann aus ihm werden. Wenn nicht etwas Schlimmes passiert. Ich sehe in Somalia einen Ehrgeiz, den auch Cigaal mitbekommen hat. Du kannst alles werden, was du willst. Natürlich sind die Rahmenbedingungen nicht so gut wie in Österreich. Unser großer Schriftsteller Nuruddin Farah hatte auch nicht die idealen Bedingungen. Ich auch nicht. Cigaal erzählt Geschichten und Träume, insofern ist diese Variante nicht so weit hergeholt.
tipBerlin Welche Rolle spielt die Droge Khat? Anaweelo handelt zumindest eine Weile damit. Ich kenne einen Film von Jessica Beshir namens „Faya Dayi“, in dem sie zeigt, dass im angrenzenden Äthiopien zumindest in einer nördlichen Region das gesamte Leben im Zeichen dieser sedierenden Drogen steht.
Mo Harawe Khat ist die einzige legale Droge, aber es hat auch einen schlechten Ruf. Ich würde sagen, dass vielleicht fünfzehn Prozent der Bevölkerung es konsumieren. Der Vater Mamargarde nimmt es, aber nicht ständig. In Äthiopien trifft Beshirs Befund vor allem auf die Provinz Harar zu.
tipBerlin Wann begannen Sie, das Drehbuch für „The Village Next to Paradise“ zu schreiben?
Mo Harawe Ich habe die erste Fassung 2018 geschrieben. Damals hatte ich noch keine Ahnung, dass das mein erster langer Spielfilm werden würde. Ich habe das nur für mich geschrieben. 2022 habe ich das Drehbuch wieder aufgegriffen und eine neue Fassung geschrieben. Für mich ist das Filmemachen wie eine Therapie, weil ich rauslassen kann, was mich beschäftigt in meinem Leben. Ich habe davor zwei Kurzfilme in Somalia gemacht.
Das Kamerateam kam aus Ägypten, die Ton-Leute aus Kenia. Es war eine große Produktion, konkret aber ein kleineres Team
Mo Harawe
tipBerlin War es schwierig, eine Finanzierung für den Film zu finden?
Mo Harawe Es hat alles gut funktioniert. Im Sommer 2022 kamen die Produzenten zu mir. Schon vom ersten Treffen an war es klar, dass wir diesen Film zusammen machen wollen, und dass der Film in Somalia gedreht werden muss, und zwar über eine Dauer von drei Monaten und mit locals, nicht mit einem rein europäischen Team. Österreichische Förderer sind eingestiegen. Es ging alles leicht, auch eine französische Koproduktion war gleich dabei, dazu ZDF und ARTE 2023. Im Sommer haben wir gedreht. Ich glaube nicht, dass das normalerweise alles so schnell geht.
tipBerlin Wie groß war das Sicherheitsrisiko bei den Dreharbeiten?
Mo Harawe Sicherheitsfragen gab es nicht wirklich. Wir haben in Puntland gedreht, einem autonomen Teil des föderalen Somalia. Dort ist es relativ stabil, dort habe ich auch schon einige Kurzfilme gedreht. Ich kannte Leute, die mit mir schon gearbeitet hatten. Das Kamerateam kam aus Ägypten, die Ton-Leute aus Kenia. Es war eine große Produktion, konkret aber ein kleineres Team, und 64 Drehtage, was nicht üblich ist. So viel Zeit hat man selten.
tipBerlin Wie sind Sie Filmemacher geworden?
Mo Harawe Die Idee, Filmemacher zu werden, ist in Österreich entstanden. Im Nachhinein denke ich: Ich war in diesem neuen Land, ich konnte die Sprache nicht und wollte mich ausdrücken. Deswegen bin ich auf die visuelle Sprache gekommen. So deute ich das im Rückblick. De facto hat sich alles ergeben. Ich bin in eine Handelsakademie gegangen und habe schon während dieser Zeit Videos gemacht und hie und da etwas geschrieben. Irgendwann gab es da kein Zurück mehr. 2020 habe ich entschieden, nachdem ich mich zweimal vergeblich für die Filmakademie Wien beworben hatte, dass ich selbstständig weitermachen und Kurzfilme wollte. 2020 wurde auch mein erster Kurzfilm in Somalia gedreht. In Kassel habe ich schließlich studiert. Dort gibt es keine klassische Filmuniversität, sondern eine Kunsthochschule, an der man allgemeiner visuelle Kommunikation lernt. Manchmal denke ich mir, ich sollte die Geschichte anders erzählen, also mehr klassisch: dass ich immer schon diesen Traum hatte. Aber so war es nicht. Es hat sich ergeben. Ich bin ein accidental filmmaker.
- The Village Next to Paradise Ö/D/F/Somalia 2024; 133 Min.; R: Mo Harawe; D: Ahmed Ali Farah, Abab Ahmed Ibrahim, Ahmed Muhamud Saleban; Kinostart: 30.1.
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