Filmkritik

„Oeconomia“ von Carmen Losmann: Die blinden Flecken der Wirtschaft

Dokumentarfilm Wie lässt sich etwas im Film festhalten, was unser tägliches Leben teils dramatisch prägt, und das gleichzeitig so kompliziert erscheint und mysteriös – so abstrakt gar, dass nicht einmal Fachleute es erklären können? Carmen Losmann verschreibt sich in „Oeconomia“ wie in ihren anderen Dokumentarfilmen dem herrschenden Prinzip unserer Wohlstandsgesellschaft: Wachstum und Optimierung, Gewinnen und Verlieren.

Dafür hat die Kölner Filmemacherin 2012 in ihrem Film „Work hard, play hard“ die Personalabteilungen großer deutscher Unternehmen beobachtet. Sie verfolgte Gespräche zwischen Personalmanagern und Jobanwärtern, hörte Abteilungsleitern zu, die ihren Mitarbeitern das Credo von „Change“ und „Lean Management“ predigten. Alles drehte sich um die bedingungslose Bereitschaft zur Maximierung und Verbesserung. In nüchternen Bildern gedreht und ohne jeden Kommentar gezeigt, wurde die Atmosphäre gegenwärtiger Arbeitswelten erstaunlich plastisch: die von enormem Druck.

"Oeconomia" von Carmen Losmann
„Oeconomia“ von Carmen Losmann. Foto: Neue Visionen

Der Pfad zu Losmanns neuem Film war damit gelegt. In „Work hard, play hard“ habe sie „nach der Ideologie eines herrschenden Systems gefragt“, sagt sie im Gespräch, dabei hätten „sich neue Fragen ergeben“. „Oeconomia“ komplettiert so betrachtet den Vorgänger. Die Filmemacherin bleibt fokussiert bei ihrer Frage nach dem Sinn und dem scheinbar „Alternativlosen“ unserers Wirtschaftssystems. Losmann findet Interviewpartner in Banken und bei Vermögensberatern, in der Europäischen Zentralbank oder auch bei alternativen Wirtschaftsdenkern.

Tief in der zweiten Halbzeit: „Oeconomia“ von Carmen Losmann

Losmann konfrontiert sie mit scheinbar simplen Fragen, etwa „Woher kommt das Geld, damit Unternehmen Gewinne machen können?“ Die Antworten sind teils ausweichend, teils komplex, oft entlarvend. Irgendwann lässt sich der „rosa Elefant im Raum“ nicht mehr übersehen: Wachstum bedingt Schulden und umgekehrt; das System dürfe nur nicht zum Stoppen kommen, „sonst bricht es in sich zusammen“, erklärt ein Banker erfreulich offen. Wäre unser Wirtschaftssystem ein Fußballspiel, sagt er, so wären wir heute „tief in der zweiten Halbzeit“.

Den Großteil an Aussagen der Finanzprofis erhielt Losmann zum Zwecke der Recherche. Die Aussagen wurden schließlich zum eigentlichen Baumaterial des Films. Dafür arbeitete die Filmemacherin mit dem Mittel des Nachsprechens durch Schauspieler oder dem Nachstellen von Beratungsgesprächen zwischen Geldanlegern und Bankmitarbeitern. „Das waren Spielregeln, die ich für den Film akzeptiert habe“, sagt Losmann. Das Vermittelte sei eine Herausforderung gewesen: „Ich komme vom beobachtenden Dokumentarfilm. Diese Möglichkeit gab es für diesen Film nicht.“

Das Hilfsmittel des „Reenactments“ führt die Filmemacherin gleichwohl sehr nah heran in das Gedankenkonstrukt des Systems, das von alternativen Wirtschaftsdenkern im Film eine „Glaubensfrage“ genannt wird.

Auf Losmanns Frage nach dem Ursprung der Vermögensvermehrung reagiert mancher Interviewpartner auch auffällig barsch. „Beleidigend“ sei eine so schlichte Frage nach derart komplexen Thematiken. Ein Hinweis auf „das Hermetische der Denkrahmung vieler Wirtschaftswissenschaftler“, so Losmann. Mit „Oeconomia“ gelingt ihr eine ruhig betrachtete Nahaufnahme innerer Mechanismen eines hochexplosiven Systems. Ulrike Rechel

D 2020; 89 Min.; R: Carmen Losmann; Kinostart: 15. 10. 2020


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