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„Anora“-Regisseur Sean Baker: „Mich hat Sex immer mehr interessiert als Gewalt“ 

Sean Baker erzählt gern von den Kehrseiten der amerikanischen Träume, so auch in „Anora“. Prekäres Leben zwingt Menschen dazu, sich in vielen verschiedenen Formen zu verkaufen. Für seinen neuen Film gab es in Cannes die Goldene Palme. Mikey Madison ist großartig in der Geschichte einer Stripperin, die an einen reichen jungen Russen gerät. Mit dem tipBerlin sprach Sean Baker über sein Kino, das sich mehr für menschliche Vielschichtigkeit als für politische Korrektheit interessiert.

Die titelgebende Ani (Mikey Madison) mit dem russischen Oligarchen-Sohn Wanja (Mark Eydelshteyn) in Sean Bakers neuem Film „Anora“. Foto: Universal Pictures

Sean Baker über „Anora“: „Schon lange wollten wir etwas über die russisch-amerikanische Community in Brighton Beach und Coney Island machen“

tipBerlin Mister Baker, in „Anora“ erzählen Sie die Geschichte einer Stripperin in New York, die von einem reichen, jungen Russen engagiert wird und plötzlich in das Chaos einer sehr privilegierten Existenz verstrickt wird. Wie kamen Sie auf diesen Stoff? 

Sean Baker Karren Karagulian, der in „Anora“ die Figur des Toros spielt, ist ein enger Freund von mir. Wir haben schon immer zusammengearbeitet, und er hat in allen meinen bisherigen Filmen mitgespielt. Schon lange wollten wir etwas über die russisch-amerikanische Community in Brighton Beach und Coney Island machen. Karren hat da viele Verbindungen, er ist gebürtiger Armenier und mit einer Russin verheiratet. 15 Jahre haben wir über Zugänge zu diesem Vorhaben nachgedacht, und hatten auch schon ein anderes Drehbuch, von dem wir dachten, es könnte uns ermöglichen, diese Welt auf eine einzigartige Weise zeigen. Aus diesem Drehbuch wurde aber nichts.

Dann verfielen wir auf den Gedanken, von einer Frauenfigur auszugehen, die – das wäre das Genre-Vorbild – in die Mafia einheiratet, und die dadurch gleichsam zu einer Geisel wird. Sie wird für eine Weile gefangengenommen und hofft, dass ihr Ehemann sie herausholt. Der tut aber nichts. Währenddessen entwickelt sie ein kleines Stockholm-Sydnrom zu einen ihrer Peiniger. Eines Tages sagte ich bei einem Brainstorming: Wie wäre es, wenn wir das Mädchen einen russischen Oligarchen heiraten lassen? Das würde die Machtbeziehung erklären und auch das Verhältnis von Geld und Macht. Alle lachten, aber ich wusste sofort, dass wir unsere Idee hatten. Das war vor ein paar Jahren. 

Karren Karagulian spielte schon in mehreren Filmen von Sean Baker mit, so auch wieder in „Anora“. Foto: Anora Productions, LLC

tipBerlin „Anora“ ist ein Triumph für die Hauptdarstellerin Mikey Madison. Wie haben Sie sie gefunden? 

Sean Baker Das war, als ich „Scream“ (2022) sah. Ich weiß noch, es lief gerade der Abspann, und ich wandte mich zu meiner Frau Samantha Quan, die auch meine Produzentin ist, und sagte zu ihr: Wir müssen Mikey Madison sofort anrufen. Es stellte sich heraus, dass sie dieselbe Agentur wie Brooklynn Prince, eine meiner Darstellerinnen aus „The Florida Project“ (2017) hat. Das war also schon einmal ein gutes Zeichen. Und dann stellte sich heraus, dass sie richtig filmverrückt ist – einer ihr Lieblingsfilme ist „Possession“ von Andrzej Żuławski. Also schrieb ich das Drehbuch direkt für sie. Juri Borissow für die Rolle des Igor fanden wir in dem finnischen Film „Abteil Nummer 6“ (2021). Drei zentrale Rollen standen also schon fest beim Schreiben, was sich als sehr hilfreich erwies. 

tipBerlin In einem Milieu wie dem russisch-amerikanischen kommt es sehr auf jedes Detail an. Wie gelang es Ihnen da, Authentizität zu sichern? 

Sean Baker Ich hatte wirklich sehr gute Kontakte in diese Welt, die immer darauf achteten, dass ich nichts falsch gemacht habe. Gerade was die Sprache anlangt. Ich benötigte einen bestimmten Slang, spreche aber selbst nicht Russisch. Ich konnte aber darauf vertrauen, dass die Leute, die es sprechen, da den richtigen Ton treffen. 

Regisseur Sean Baker bei den Dreharbeiten zu seinem neuen Film „Anora“. Foto: Universal Pictures

tipBerlin „Anora“ ist eine Komödie, rührt aber deutlich an eine untergründige Härte, ja Brutalität. Könnte das Teile des Publikums überfordern oder abstoßen? 

Sean Baker Wir leben in einer Zeit mit starken Sensibilitäten und einer politischen Korrektheit, an die sich die Filmindustrie inzwischen sehr strikt hält. Ich habe mich von Beginn an dafür entschieden, da meinen eigenen Weg zu gehen. Meine Absicht ist es nicht, jemanden zu beleidigen oder bloßzustellen oder Emotionen zu triggern. Aber wenn man schaut, welche Filme in den 1970er Jahren gemacht wurden, dann ist das ein Maßstab, den ich nicht aufgeben möchte. „Anora“ hätte bei einem Studio in der amerikanischen Filmindustrie, auch nur bei einem kleinen, niemals eine Chance gehabt. Ich bin nicht fies, ich will menschliche Figuren, und wenn man da konsequent ist, darf man Aspekten nicht ausweichen, die auch eine Belastung darstellen können. 

Sean Baker: „In Amerika gibt es kaum noch Filme, die sich nicht auf Stars verlassen. Ich bin da eine Ausnahme.“

tipBerlin Sie arbeiten unabhängig. Was heißt das genau? 

Sean Baker Nur so viel: Ich habe meine eigene Firma. Wenn der Film fertig ist, verkaufen wir ihn an einen Verleiher. Vorher machen wir das, was wir machen wollen. Die Mini-Studios wie A24 produzieren inzwischen selbst. Das ist ok, aber ich bleibe lieber für mich. Ich achte sehr auf mein geistiges Eigentum. Ich möchte mir von niemandem dreinreden lassen. Mein Geld kommt aus dem Bereich Private Equity, also einfach von Leuten, die Geld verdienen wollen und dafür etwas einsetzen. In Amerika gibt es kaum noch Filme, die sich nicht auf Stars verlassen. Ich bin da eine Ausnahme. Ich kann Grenzen ausloten, und brauche dafür keine Stars. Mikey wird ein Star werden, aber sie war es noch nicht in dem Maß, als wir anfingen. Ich bin in einer glücklichen Position, dass dieser Film zustande kam, dass Leute dem Projekt vertrauten. 

„Anora“ wird wegen seiner Storyline um eine Sexarbeiterin und ihren schwerreichen Kunden oft mit „Pretty Woman“ verglichen. Foto: Foto: Anora Productions, LLC

tipBerlin Das Thema Sexarbeit zieht sich durch Ihr Werk. 

Sean Baker Sexarbeit interessiert mich schon lange. Das ist eines meiner Anliegen, weil man davon kaum einmal realistische Bilder sieht und kaum einmal Möglichkeiten bekommt, Empathie dafür zu entwickeln. Ich wollte Sexarbeit in einer mehrdimensionalen Weise zeigen. 

tipBerlin Gilt die alte Devise „sex sells“ heute noch im Kino? 

Sean Baker Ich habe gehört, dass die Gen Z keinen Sex in Filmen mehr sehen möchte. Ich bin Gen X. Mich hat immer Sex in Filmen viel mehr interessiert als Gewalt. Wir gehen heute aber förmlich unter in Gewaltdarstellungen. Ich war in jungen Jahren ein großer Fan von Horrorfilmen, weiß also, was es an Gewalt so alles gab und gibt. Aber wir haben inzwischen große Angst vor Darstellungen von Sex. Vielleicht sollten wir Sex wieder einen größeren Stellenwert einräumen. Das wäre jedenfalls ehrlicher. Ich bin sehr stark von erotischem Kino inspiriert, von Paul Verhoeven in seiner niederländischen Phase, von japanischen Exploitationfilmen. 

Der einzige Grund, dass ich in New York leben kann, ist der, dass ich einen alten Mietvertrag habe, der nicht erhöht werden kann.

Sean Baker

tipBerlin Mit „Anora“ nehmen Sie nun auch die Obszönität bestimmter Formen von Reichtum in den Blick. Gehen Sie da auch von eigenen Erfahrungen in New York aus? 

Sean Baker Der einzige Grund, dass ich in New York leben kann, ist der, dass ich einen alten Mietvertrag habe, der nicht erhöht werden kann. Träume in Amerika sind immer mit Geld verbunden, das ist vielleicht traurig, aber ich will das zuerst einmal ernst nehmen. Anora erlebt ein Märchen, in dem Geld die größte Energie ist. Sie zeigt uns alle Facetten des Reichtums. 

tipBerlin Halten Sie sich für einen Realisten? 

Sean Baker Ich halte mich für einen Realisten, auch wenn meine Filme großes Interessen an Stilisierungen haben und in Fantasien hineinreichen. Ich habe aber auch viel übrig für eine bestimmte Form von Comic Book Fantasy. Aber meine Figuren sind alle sehr sorgfältig durchdacht. Wir haben irgendwie verlernt, ein erwachsenes Publikum anzusprechen. Man braucht Zeit, um eine Figur zu entwickeln. Und das Gestalten dieser Zeit für die Dauer eines Films ist meine Kunst. Ich brauche keine Theorien. Ich erzähle Spielfilme, so wie ich es kann. Vielleicht bin ich damit ein bisschen ein Dinosaurier. 

tipBerlin Können Sie nun nach der „Goldenen Palme“ in Cannes ein Traumprojekt realisieren, das Sie schon lange in der Schublade hatten? 

Sean Baker Nichts Bestimmtes. Ich habe ein paar Ideen. Der nächste Film geht wohl in de Richtung, in die ich ohnehin schon immer unterwegs war. Die Goldene Palme wird mir das möglich machen. Ich brauche nicht groß mehr Geld. Ich kann mit Grenzen gut umgehen, ich verlasse mich auch gern auf Zufälle. Ich kann in meinen Grenzen das tun, was nur ich tun möchte. Das ist doch mehr als genug. 

  • Anora USA 2024; 138 Min.; R: Sean Baker; D: Mikey Madison, Mark Eydelshteyn, Karen Karaguljan; Kinostart: 31.10.

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