Das Soundwatch Musikfilmfestival 2021 kehrt nach einer digitalen Edition in die Berliner Kinos zurück. Vom 10. bis 17. November könnt ihr tief in das unterschätzte Genre des Musikdokumentarfilms abtauchen. tipBerlin-Autor Andreas Döhler gibt einen Überblick – und freut sich vor allem auf den Eröffnungsfilm über Throbbing Gristle und einen sehr persönlichen Film über Lydia Lunch.
„Other, Like Me“ eröffnet das Soundwatch-Festival 2021
Als vor einem Jahr die zweite Corona-Welle den Stecker zog, gingen auch in den Kinos alle Lichter aus. Betroffen davon war auch das „Soundwatch Music Film Festival“. Der 2020 geplante Eröffnungsfilm „Other, Like Me“ über das radikale Kunstprojekt „COUM Transmissions“, aus der die legendäre Industrial-Band „Throbbing Gristle“ hervorging, musste abgesagt werden.
Nun gibt es beim diesjährigen Soundwatch die Möglichkeit das nachzuholen bei einer Aufführung im SO36, einem sehr passenden Ort dafür, spielte doch dort im November 1980 Throbbing Gristle ihr allererstes Deutschland-Konzert. Im Rückblick fällt bei „Other, Like Me“ auf, dass die stark auf Genesis P-Orridge fixierte Wahrnehmung der Band ein Irrtum war, sie funktionierten als musikalisches Kollektiv und gerade auch ihre Gitarristin Cosey Fanni Tutti war dabei eine antreibende Kraft.
Wie erfreulich produktiv Tutti immer noch ist, zeigt das Doku-Drama „Delia Derbyshire: The Myths and Legendary Tapes“ von Caroline Catz. Kongenial remixt Tutti für den Filmscore die Sounds von Delia Derbyshire neu und eröffnet dadurch einen ganz eigenen Zugang zu deren nicht ganz einfacher Persönlichkeit. Derybshire war als Teil des innovativen BBC-Radiophonic-Workshop eine musikalische Tüftlerin, die zu Unrecht jahrzehntelang immer unterm Radar blieb, oftmals lediglich reduziert auf ihren Hit, die bahnbrechende Titelmelodie von „Dr. Who“. Der Film zeigt sie als das, was sie ist, als eine der Schlüsselfiguren für die Entwicklung der elektronischen Musik in den 1960er-Jahren.
„Sisters with Transistors“: Vorbilder für die Berliner Gegenwart
Wenig tröstlich ist es, dass Derbyshire das Schicksal der überwiegenden Ignoranz mit vielen anderen elektronischen Musikerinnen ihrer Generation teilte: Pauline Oliveros, Eliane Radigue, Daphne Oram, Laurie Spiegel, Suzanne Ciani. Die Dokumentation „Sisters with Transistors“ von Lisa Rovner revidiert, längst überfällig, diesen Fehler. Sie bringt nicht nur die oben genannten Frauen in einem Film zusammen und lässt sie zu Wort kommen, sondern transportiert deren Musik, die immer Zukunft und niemals Vergangenheit war, in eine Berliner Gegenwart, die gerade durch solche Vorbilder zu einem kreativen Zentrum für junge, ambitionierte elektronische Musikerinnen geworden ist.
Eine Pionierin auf ihre ganz eigene Art ist Lydia Lunch. Wer hätte es 1977 für möglich gehalten, dass sich aus der 18-jährigen, kreischenden No-Wave-Sirene mit „Teenage Jesus & The Jerks“ eine so vielschichtige, unberechenbare, aber auch kontinuierliche Selbstermächtigungs-Künstlerin entwickelt, die dabei aber immer mit den Wurzeln in der Underground-Kultur verwachsen blieb.
Facettenreicher Film über Lydia Lunch
Ihre langjährige Freundin, die New Yorker Filmemacherin Beth B hat nun mit „Lydia Lunch – The War Is Never Over“ einen sehr persönlichen Film gedreht, der die erstaunlichen Facetten der Sängerin, Spoken-Word-Dichterin und Schauspielerin aus nächster Nähe beobachtet und demonstriert: Es geht um Herzblut, Haltung und eine gesunde Portion Kompromisslosigkeit.
Daran mangelt es auch den „Idles“ und besonders ihrem Sänger Joe Talbot nicht. 2017 starteten sie mit einem vehementen Noise-Post-Punk durch, der in diesen musikalisch recht biederen Zeiten seinesgleichen sucht, und konsequent selbstgefällige Attitüden jeder Art aufs Korn nimmt und attackiert. Sie legen sich auch gerne mal bei ihren grandiosen Live-Auftritten mit dem eigenen Publikum an, besonders wenn ihnen Macho-Gehabe auf den Geist geht. Trotzdem haben sie die Pandemie-Zwangspause genutzt, um mit „Don’t Go Gentle: A Film about Idles“ einen Film für ihre Fans zu drehen, den man sich nicht im Kino entgehen lassen sollte.
In der Summe liefert das Soundwatch Music Film Festival auch in diesem Jahr wieder ein hervorragendes Programm ab, und leistet weiter großartige Arbeit im Bereich des unterschätzten Genres des Musikdokumentarfilms.
- Soundwatch Musikfilmfestival 2021 10.-17. November – Eröffnungsfilm „OTHER, LIKE ME – A FILM ABOUT COUM AND THROBBING GRISTLE“ am 10. November im SO36, der weitere Spielort ist das Lichtblick-Kino. Das gesamte Programm hier
Mehr Kino und Film
Wir sprachen über komplexe Frauenfiguren und ihre Rolle in „Es ist nur eine Phase, Hase“: Unser Interview mit Christiane Paul. Zwei Berliner und ihr Kampf gegen Google: Darum geht’s in der Netflix-Serie „The Billion Dollar Code“. Immer aktuelle Texte findet ihr in unserer Film-Rubrik. Die Videothek war vor dem Streaming-Zeitalter der Treffpunkt für große wie kleine Cineast:innen. Wir haben 12 schöne Fotos zu Berliner Videotheken rausgesucht.