„La bête“, „The Beast“, so heißt Bertrand Bonellos Science-Fiction-Drama mit Léa Seydoux – eine Adaption von Henry James’ „The Beast in the Jungle“, die auf drei Zeitebenen die Tiefe des Gefühls abtaucht. tipBerlin-Kritikerin Alexandra Seitz hat den Film gesehen.
„The Beast“ hat drei Zeitebenen: 1910, 2014 und 2044
Von Beginn an steht die Erinnerung in Frage. Vor drei Jahren in Rom seien sie einander das erste Mal begegnet, in Begleitung von Soundso und Soundso. Sagt der Engländer und fragt, ob sie das etwa vergessen habe. Nein, sagt die Französin, sie wisse sehr wohl, dass sie einander bereits einmal begegnet seien. Aber es sei in Neapel gewesen, vor sechs Jahren, und dabei waren Dieser und Jener. Das Gespräch der beiden trägt sich zu im Rahmen einer Abendgesellschaft, sie flanieren in eleganten Roben durch elegante Salons und blicken auf Bilder, die Egon Schiele gemalt haben könnte. Paris 1910 droht in einem Hochwasser unterzugehen. Die Moderne und mit ihr der Erste Weltkrieg kündigen sich an.
In Los Angeles im Jahr 2014 hütet Gabrielle Monnier in den Hügeln eine Villa, die Le Corbusier gebaut haben könnte, während sie mit wenig Erfolg an ihrer Schauspiel-Karriere bastelt. Beobachtet wird sie dabei von Louis Lewanski, einem Incel kurz vor dem Ausraster; die Pistole hat er bereits im Gürtel stecken, „der Tag der Rache“ – an den Frauen und dafür, dass sie ihn nicht beachten – sei gekommen. Aber Gabrielle ist einsam und ahnungslos und versucht eine Annäherung, denn irgendetwas zieht sie zu ihm hin. Atmosphärisch droht „the big one“, das endgültige Erdbeben, die Eruption des Sankt-Andreas-Grabens.
Bertrand Bonellos Science-Fiction-Melodram „La bête“ hat noch eine dritte Ebene: Sie liegt in der Zukunft, 2044, geatmet wird durch Masken. Künstliche Intelligenz hat die Herrschaft übernommen und treibt den Menschen die Gefühle aus. Nun soll Gelassenheit herrschen, dafür gibt es eine Prozedur: mit ihrer Hilfe werden frühere Leben erinnert und entstandene Traumata überwunden. Eine junge Frau zögert, sich dem zu unterziehen, dann trifft sie auf einen jungen Mann, der ihr irgendwie entfernt bekannt vorkommt. Um nicht zu sagen vertraut ist.
Kühl und elegant setzt Bonello die Geschichte in Szene
Die drei Ebenen sind ineinander geflochten, verbunden auch über gemeinsame Motive – Puppe, Taube, Wahrsagerin, Tanz, Berührung, Flüssigkeit –; die Fäden der Narration beschreiben ein beständiges In- und Auseinandergleiten. Zusammengehalten aber wird das Ganze von der Tiefe des Gefühls, das im Inneren des Paares lebt, das nicht wagt, Paar zu werden. Oder es immer schon ist – als Chiffre jener ewigen Liebe, die alles zwingt, erst recht Zeit und Raum. Kühl und elegant, mit kargen Mitteln setzt Bonello diese Epochen querende, dabei das Unheimliche wie das Horrende streifende Geschichte in Szene, die auf der 1903 veröffentlichten Erzählung „The Beast in the Jungle“ von Henry James beruht.
Sekundiert von Seydoux und MacKay, die, eingedenk des Menschlichen und der Zärtlichkeit, derer es fähig ist, die inkriminierten Gefühlswesen Gabrielle und Louis gleich dreifach in ihr Recht setzen. Und dabei freilich auch die Frage aufwerfen, wer eigentlich die Bestie ist: Ist es der vor Sehnsucht rasende Mensch, blindwütig in seiner Lebensgier? Oder das Wesen, das diese zugunsten der Mäßigung – man könnte auch sagen: des Mittelmaßes – aufgibt, um sich ins Bestehende einzugliedern? Oder ist es gar der Zweifel – Handeln? Nicht-Handeln? -, der schon Hamlet den Ruin brachte? So ist „La bête“ am Ende in seiner herrlichen Artifizialität doch ein ganz und gar gegenwärtiger Film. Obendrein einer, dem es gelingt, seinen Gedanken die Schwere zu nehmen, sie in der Schwebe zu halten wie das Wasser die Körper Ertrunkener.
- The Beast (OT: La bête) F 2023; 146 Min.; R: Bertrand Bonello; D: Léa Seydoux, George MacKay; Kinostart: 10.10.
„The Beast“ kommt ins Kino, Bertrand Bonellos vorheriges Werk heißt „Zombi Child“ – zur Kritik. Fortsetzungsdilemma: „Joker: Folie à Deux“ hat unseren Kritiker nicht überzeugt. Ambitioniert, aber leider nicht gelungen: „Megalopolis“ in der Kritik. Ein großartiger Bodyhorror-Schocker: „The Substance“ mit Demi Moore und Margaret Qualley in der Kritik. Viele seltsame Pointen: Die Kritik zu Fabian Stumms Film „Sad Jokes“. Kampf gegen das Ost-Patriarchat: „Die Unbeugsamen 2“. Was läuft sonst gerade? Hier ist das aktuelle Kinoprogramm für Berlin. Mehr aus der Filmwelt lest ihr in unserer Kino-Rubrik.