In ihrem dritten Spielfilm „The Outrun“ holt „Systemsprenger“-Regisseurin Nora Fingscheidt den irisch-amerikanischen Schauspielstar Saoirse Ronan vor die Kamera. Das Drama über den Kampf einer jungen Frau gegen ihre Alkoholsucht begeistert tipBerlin-Kritikerin Paula Schöber neben dem herausragenden Schauspiel von Saoirse Ronan vor allem wegen überwältigender Naturbilder und einem genialen Sound.
„The Outrun“ erzählt vom Kampf einer jungen Alkoholikerin
Die deutsche Regisseurin Nora Fingscheidt konzentriert sich in ihren Filmen gerne auf „schwierige“ Persönlichkeiten, auf Menschen, die an den Rand der Gesellschaft geraten. In ihrem Spielfilmdebüt „Systemsprenger“ brachte ein neunjähriges Mädchen mit Aggressionsproblemen buchstäblich das System zum Explodieren, und in der Netflix-Produktion „The Unforgivable“ spielt Sandra Bullock eine verurteilte Straftäterin, die mit ihrer Resozialisierung ringt. In ihrem dritten Spielfilm zeigt Fingscheidt eine junge Frau, die der Alkoholismus an den Rand der Gesellschaft treibt und die sich von dort wieder zurück zu Freunden, Familie und sich selbst kämpft.
Rona ist Ende zwanzig und lebt in London in den Tag hinein. Dass sie ein Alkoholproblem hat, will sie sich lange nicht eingestehen, ihre Emotionen tanzt sie im Londoner Nachtleben weg. Erst als ihr Freund sie nach einem besonders verheerenden Absturz verlässt, bricht die Sucht vollends über Rona herein. Sie unterzieht sich einem Entzug und verlässt anschließend den großen, brummenden Stadt-Moloch, um in ihrer Heimat auf den entlegenen Orkney-Inseln zur Ruhe zu kommen.
„The Outrun“ basiert auf dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Amy Liptrot, die zusammen mit Nora Fingscheidt auch das Drehbuch der Filmadaption geschrieben hat. Die Idee, das Buch zu verfilmen, kam von Saoirse Ronan. Die irisch-US-amerikanische Ausnahmeschauspielerin nimmt in „The Outrun“ eine Doppelrolle ein: Zusammen mit ihrem Mann, dem britischen Schauspieler Jack Lowden, stellte sie das Projekt als Produzentin auf die Beine. Vor allem aber spielt sie die alkoholkranke Rona, und zwar mit einer solchen Intensität, einer so radikalen Ehrlichkeit, dass sie sich mit dieser Rolle in ihrer schauspielerischen Karriere selbst übertrifft. Und das ist gar nicht mal so leicht. Die 30-Jährige war bereits vier Mal für den Oscar nominiert und überzeugt Publikum und Kritiker mit ihrem Leinwand-Talent, seit sie 13 ist, zuletzt etwa als alleinerziehende Mutter in Steve McQueens Antikriegsdrama „Blitz“.
„The Outrun“ spielt in London und auf den entlegenen Orkney-Inseln
„The Outrun“ bleibt sehr nah an der literarischen Vorlage, springt in seiner Erzählweise immer wieder zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her. Rückblenden in Ronas Kindheit zeigen, dass auf die junge Frau nach ihrer Flucht aus London nicht gerade ein stabiles Elternhaus wartet. Erst quartiert sie sich bei ihrer tiefreligiösen Mutter ein, hält es dort aber nicht lange aus und zieht zu ihrem bipolaren Vater auf dessen Schaf-Farm. Da aber weder die unverständige Mutter noch der in depressiven Phasen komplett abwesende Vater eine große Hilfe für die kranke Tochter sind, beschließt Rona, den Heilungsprozess alleine weiterzugehen. Die quasi vollständige Abschottung von der Außenwelt findet sie auf der entlegensten der Orkney-Inseln, wo sie mit sich und der Natur allein ist.
Und diese gewaltige Natur fängt die Kamera von Yunus Roy Imer in überwältigenden Bildern ein. Der raue Atlantik, der gegen die schroffen Felsen kracht, der Wind, der Fenster einschlägt, die Seehunde, mit denen Rona in ihrer selbstgewählten Isolation um die Wette heult. Dass bei einem Film alle Gewerke perfekt ineinandergreifen, kommt selten vor. „The Outrun“ ist so ein rares Kunstwerk, in dem große Bilder mit überwältigendem Schauspiel, einer klugen Regie und genialem Sound zusammenkommen. Dieses Kunstwerk gehört ganz dringend auf die große Leinwand.
- The Outrun UK 2024; 118 Min.; R: Nora Fingscheidt; D: Saoirse Ronan, Paapa Essiedu, Stephen Dillane; Kinostart: 5.12.
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